1. August-Rede in Ftan!
Allegra e buna saira
stimats abitants e stimats giasts da ftan
daspö blers, blers ons sun eir eu ün giast, ün visitader da vos cumün
e perquai n'haja plaschair da pudair esser ingon vos oratur dals prüms avuost
Cari Ospiti
Liebe Gäste
Seit vier Jahrzehnten komme ich regelmässig in dieses wunderschöne Dorf Ftan, meistens im Winter, wenn im Unterland, genauer in Basel, die Fasnacht tobt und Euer Capo (Gemeindepräsident) mit Seiner lieben Frau Ursula sich im Morgenstraichgetümmel von den verantwortungsvollen Aufgaben hier oben erholen. Dann steige ich jeweils für eine Woche in die Arbeitskleider und umsorge seine Schafe und Kühe, die Hühner, das Pferd und die Geissen, miste den Stall, schneide Heu und bin glücklich. Wie John F. Kennedy, der 1963, über die Berliner-Mauer schauend, ausrief „Ich bin ein Berliner“ möchte ich hier, viel bescheidener zwar, auch sagen: „Ich bin ein bisschen auch ein Ftaner“. Es erfüllt mich deshalb mit stolz und ich fühle mich sehr geehrt, dass ich heute, zum Geburtstag der Schweiz, hier stehen und zu Euch sprechen darf. Übrigens, es ist meine erste 1. August-Rede und ich bin deshalb schon ein wenig aufgeregt.
Doch was wollen wir hier gemeinsam den Geburtstag der Schweiz feiern, wenn ich behaupte: La Svizra nun exista! ? Wohlverstanden: Dieses Sätzchen stammt nicht von mir. Denn vor genau 20 Jahren, 1992, tauchte es anlässlich der Weltausstellung in Sevilla, im Schweizer Pavillon auf, hingeschrieben vom Künstler Ben Vautier und es löste in der Schweizer Bevölkerung einen Sturm der Entrüstung, einen veritablen Kulturskandal aus. Landauf landab wurde darüber geschrieben und geredet. Die einen forderten die Einstellung aller Subventionen für Künstler, die nichts anderes taten als zu provozieren, andere wiederum beklatschten Ben Vautier als visionären Avantgardist, der den Zustand der Schweiz auf den Punkt gebracht hatte. Denn bedenken wir, es war die Zeit, als sich die Schweiz dem EWR verwehrte und noch nicht Mitglied der Völkergemeinschaft UNO war. Das alles liess Befürchtungen aufkommen, dass sich die Schweiz international immer mehr isolieren würde!
So oder so, die provokative Aussage von Ben Vautier war nicht mehr rückgängig zu machen. Sie zwang uns zum nachdenken darüber, in welcher Schweiz wir leben wollen, wie wir diese unsere Schweiz gestalten wollen, und wohin wir mit dieser Schweiz gehen wollen.
Historiker und Historikerinnen streiten sich ja immer noch darüber, ob die Schweiz nun im August 1291, anlässlich des Rütlischwures oder 1848, anlässlich des Inkrafttretens der 1. Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft geboren wurde. Doch überlassen wir diesen Streit getrost den Wissenschaftlern. Denn eines wissen wir mit Sicherheit: Beiden Ereignissen steht die Willensäusserung für eine unabhängige Schweiz Pate!
1291 trafen sich Werner Stauffacher, Walter Fürst und Arnold von Melchtal auf dem Rütli und gelobten: Wir WOLLEN sein ein einig Wolk von Brüdern... Nicht: Wir SIND ein einig Volk von Brüdern... Es war eine klare Willensäusserung zu einer Schweiz die nicht in Knechtschaft, sondern frei leben wollte und die beseelt war vom Willen zur Unabhängigkeit. Eine Nebenbemerkung: Die Schwestern, d.h. die Frauen hatten damals, im einig Volk von Brüdern, offenbar nicht viel zu sagen. Es dauerte dann ganze 680 Jahre, bis das Brudervolk zu einem Bruder- und Schwesternvolk wurde!
Auch die moderne Schweiz, die mit Inkrafttreten der ersten Bundesverfassung gegründet wurde, entstand aus dem Willen, den föderalen Geist, den sie auf Druck Frankreichs für längere Zeit verlor, (Stichwort Helvetische Republik) wieder herzustellen. Die Schweizer wollten keinen Einheitsstaat nach französischem Muster und wehrten sich heftig dagegen. Es war Napoleon Bonaparte selbst, der einsehen musste, dass die störrischen Schweizer nicht gemacht waren für eine zentralistische Struktur. Mit seiner Mediationsakte als konföderale Verfassung wurde die moderne Eidgenossenschaft aus der Taufe gehoben.
Im Gegensatz zu Frankreich, Italien oder Deutschland, die man als Kulturnationen definiert, ist die Schweiz eine WILLENSNATION. Das heisst, es gibt DIE Schweiz im engeren Sinne gar nicht. Wir leben in einem Land das geprägt ist von der Vielfalt der Kulturen, der Sprachen und der Traditionen. DER Schweizer, DIE Schweizerin ist irgendwann mal eingewandert aus dem Germanischen Kulturraum, aus dem romanischen Kulturraum, aus dem keltischen Kulturraum, aus dem baltischen oder slawischen Kulturraum. Was uns verbindet ist der WILLE zur Zugehörigkeit zur Schweiz und das drückt sich aus in der Ausübung der von uns gestalteten demokratischen Volksrechte, im Wehrdienst, im Code Civil, u.v.m. Um es anschaulich zu machen: Es gibt den Appenzeller und den Glarner, die ihre Volksrechte immer noch im Ring ausüben, es gibt den Walliser, der von „Üsserschwitzer“ redet, wenn er uns Nichtwalliser meint, es gibt den Zürcher, der seine Stadt Downtown Switzerland tauft, weil er meint, der Nabel der Schweiz zu sein, es gibt die Welschen, die zwar mehrheitlich Deutsch können, sich aber charmant weigern diese Sprache zu sprechen, vielleicht aus Angst vor Identitätsverlust? Es gibt die Tessiner, die gerne eine zweite Gotthardröhre und einen permanenten Bundesrat hätten, weil sie sich immer ein bisschen ausgegrenzt und benachteiligt fühlen. Und natürlich gibt es die Bergregionen, das Engadin zum Beispiel, Ftan, wo Unterländer gerne Ferien machen, und wo die Welt noch intakt zu sein scheint. Und alle gehören dieser Schweiz an. Die Jurassier gleichwohl wie die Thurgauer und die Innerschweizer und nicht zu vergessen, die Aargauer! Erwähnen möchte ich auch die zahlreichen Menschen die aus dem Ausland zugezogen sind, die zwar keine Volksrechte besitzen, die aber bei uns Leben und arbeiten und tatkräftig mithelfen, dass es uns und unserem Land gut geht. Mit eingeschlossen die tausenden von Sans Papier, die, ihrer Existenz wegen, gezwungen sind, schwarz bei uns in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder im Gastgewerbe zu arbeiten. Rechtlose Menschen, die schamlos ausgenützt werden von den gleichen Kreisen, die alle Nicht-Schweizer am liebsten an die Grenzen stellen wollen.
Sie sehen, die Schweiz ist ein komplexes Gebilde, das ohne den Willen seiner Bevölkerung zur Zusammengehörigkeit wohl kaum eine Zukunft hätte. Eine Willensnation muss immerfort WOLLEN! Sie darf die Hände nicht in den Schoss legen. Sie muss sich der Gefahren bewusst sein, die ein auseinanderfallen begünstigen könnte und sie muss die Werte, die sie gross gemacht haben pflegen und weiterentwickeln. Das heisst, gelebte Solidarität mit Minderheiten im Land, gelebte Toleranz und Achtung allen Menschen gegenüber die mit uns leben und arbeiten und die aktive Mitgestaltung eines Jeden und einer Jeden an der Erhaltung dieser Werte.
Denn es gibt Strömungen im Lande, die am Erhalt der Willensnation nagen und sie bedrohen. Denken wir nur an die nicht enden wollende Diskussion darüber, ob unsere „Staatsmedien“ noch Sinn machen oder nicht und ob es ökonomisch noch vertretbar ist, dem romanischen und italienischen Bevölkerungsteil ein eigenes Sendegefäss zu gewähren. Denken wir an die Post und die Eisenbahn die nicht nur Menschen Briefe und Pakete befördern, sondern auch dafür sorgen, dass alle unsere Landesteile, alle unsere Dörfer, auch die Abgelegensten, miteinander verbunden bleiben. Wollen wir diese Errungenschaften auf dem Altar der Rendite opfern? Und die Bergbauern? Was würde aus ihnen, würden wir ihnen die finanzielle Solidarität, ich meine die Subventionen, aufkündigen? Es würden unzufriedene Landschaftsgärtner übrig bleiben die bald einmal abwandern, weil die Motivation für das echte Bauerndasein fehlen würde. Mit fatalen Konsequenzen nicht nur für die Bergregionen, sondern für die ganze Schweiz.
Es ist nicht nur der wirtschaftliche urbane Grossraum, der in der Schweiz etwas zählt. Nicht nur die Rendite und nicht nur das Geld. Die Schweiz hat mehr zu bieten. Gerade in einer sich global gebenden Welt kann sie Beispiel dafür sein, dass auch im Kleinräumigen, in den Tälern und in den Dörfern, weit ab von grossen Ballungszentren gelebte tolerante und angstfreie Multikultur möglich ist. Dass bei ihnen, liebe Ftanerinnen und Ftaner, auch die hier ansässigen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger auf Gemeindeebene aktiv mitreden und mitentscheiden können, beweist doch, dass ein Miteinander sinnvoller ist als die ewige Ausgrenzungsdiskussion. Seht her, liebe Unterländer, an den Rändern der Schweiz geschieht mutiges!
La Svizra exista! Aber eben, mit Betonung auf DIE Schweiz, LA Svizzera, LA Suisse. LA Svizra. Denn in der Vielfalt liegt ihre Stärke. Tragen wir Sorge zu ihr!
Ich danke Ihnen, Liebe Ftanerinnen und Ftaner, liebe Gäste, cari ospiti, dass sie mir so geduldig und aufmerksam zugehört haben.