Brief an einen Freund!

20.12.2014 14:27
 
Dein Brief an mich:
"Die Scham, keinen Vater, keine Mutter und keine Familie zu haben und das Gefühl, an allem selber Schuld zu sein, begleitete mich mein ganzes Leben." Aber doch jetzt nicht mehr, n'est-ce-pas! Deine Scham, wirklich nur eine Folge deiner katholisch"en Zwangsformierung, die so lange nachgewirkt hat? Mir jedenfalls, als einer von Vieren mit Vater und Mutter einst, bleibt diese Fixierung letztlich unverständlich. Deine politische, 68iger, Sozialarbeiterrebellion muss dir diese Scham doch seit langem ausgebleut haben. Einer wie du, der seinen Ex-Junkies den einzig richtigen Weg gewiesen hat: akzeptiert auf keinen Fall den Status als IV-Rentner! Auf jeden Fall, Sergio, du hast erreicht was vielen nützt und manche nie erhalten - die Anerkennung für Deine n Einsatz zugunsten aller Heimkinder in der Schweiz und sicher auch in Russland. A propos Elternliebe: so viele psy's bemühen sich ebenfalls, ihre Patienten von den elterlichen Traumas zu befreien. Mit weniger Erfolg als Du, so wie mir es scheint.
 
Meine Antwort:
 
Caro amico
 
Lange hast Du auf eine Antwort auf Dein Schreiben warten müssen, das Du mir via meiner Homepage zukommen liessest. Ich war nochmals in Russland und danach oft am arbeiten, trotz oder wegen meines Pensionistendaseins. Wie geht es Dir? Ich darf wohl nur das Beste vermuten, oder?
 
Ja, Du hast mich zitiert aus irgendeinem Text, den ich irgendwann einmal - bezugnehmend auf mein „Heimleben“ - geschrieben habe. Von Scham und Schuld war darin die Rede, von Scham und Schuld, die mich das ganze Leben hindurch begleitet hat und immer noch begleitet. Und verwundert reibst Du Dir die Augen, weil Du nicht glauben kannst, dass ich immer noch an dieser Geschichte zu kauen habe. Du kannst das nicht nachvollziehen. Das verstehe ich.
 
Amico mio, Du bist wohl behütet und in einer existenzsicheren Umgebung gross geworden. Du hast Dich nicht mit fremden und frommen Pädagogen herumschlagen müssen. Dir hat niemand in epischer Wiederholung eingeimpft, Du seist nichts wert; Frucht einer Sünde und deshalb dazu verdammt, ein Leben lang Busse zu tun. So war es! Denn die Erziehungswissenschaft weiss es schon lange, dass wenn man das Kind von klein auf mit einer solchen gottverdammten und destruktiven Moral in Schach hält, es zu einem seelischen Krüppel wird. Ich bin zum guten Glück kein seelischer Krüppel geworden. Aber tief in mir drinnen sitzt eben immer noch der Stachel, den sie mir während 18 Heimjahren eingepflanzt haben. Und dieser Stachel zwickt hie und da halt immer noch.
 
Dass ich es „geschafft“ habe, verdanke ich einigen wenigen Menschen, die sich mir in den frühen Kinder- und Jugendjahren liebevoll zugewandt haben. Da war Tante Anneli (keine Verwandte, wir mussten unseren Betreuern Onkel und Tante sagen), eine fromme kleine Frau mit Klumpfuss und leichtem Down Syndrom. Sie hat mich als Säugling im Heim liebevoll gepflegt, als wäre ich ihr eigenes Kind. Sie hat mir die lebensnotwendige Dosis Urvertrauen eingehaucht, die mir half, einigermassen aufrecht durchs Leben schreiten zu können.
 
Und als mich die fromme Heimgemeinschaft mit 18 Jahren auf die Gasse spuckte, weil die Behörden kein Kostgeld mehr zahlen wollten - zurück in meiner „Heimat“ Tessin - vegetierte ich viele Monaten am Rande der Gesellschaft, hungernd, verwahrlosend und einsam. Doch eines Tages stand mir ein junger Sozialarbeiterpraktikant aus Basel gegenüber, der mir half, wieder aufzustehen. Er gab mir zu essen, kleidete mich neu ein und sorgte dafür, dass ich ein anständiges Obdach bekam. Denn nur wer nicht Hunger leidet, wer ein Zuhause hat und Freunde, hat die Kraft, Lebensperspektiven zu entwickeln. Dank der Hilfe dieses mutigen jungen Praktikanten, der seinen Beruf als eine anwaltschaftliche und politische Aufgabe verstand, durfte ich in dieser Gesellschaft langsam Fuss fassen. Denn bedenke, es gibt zahlreiche ehemalige Heimkinder, denen es nicht vergönnt war, solch guten Menschen über den Weg zu laufen. Viele von ihnen blieben arm und unglücklich und mussten früh sterben.
 
Ich hatte das Glück!
 
Und doch, noch heute leide ich im stillen. Ich musste in Pension gehen, bis ich den Mut fand, mich als Heimkind zu outen und bis ich erzählen konnte, dass ich kein Familienkind bin. Meine dunklen und schmerzhaften Heimerfahrungen und das bittere Eingeständnis, dass ich von meiner Mutter, kaum auf der Welt, feige verleugnet wurde, habe ich viele Jahre auf der tiefsten Schamebene verborgen gehalten. Anders ist es nicht zu erklären, dass ich so lange zuwarten musste, bis ich endlich darüber reden konnte. Noch heute beschleicht mich zuweilen ein seltsames und nicht zu tötendes Gefühl von Minderwertigkeit. Alle um mich herum sind gebildeter, gescheiter, schöner und Selbstbewusster. Ich weiss, es ist ein subjektives und blödes Gefühl, aber es ist eines. Man kann es mir nicht mit Trost und schönen Worten ausreden. Einzig die Zeit, die ja bekanntlich Wunden heilt, arbeitet für mich und die Solidarität unter den Opfern und Betroffenen.   
 
Mein „Heimleben“ war kein Internatsleben. Denn dorthin  wurden nur Söhne und Töchter „aus besseren Kreisen“ gebracht. Auch wenn diese Internats-Kinder vielleicht Heimweh hatten, vereinzelt sogar missbraucht wurden oder unter der sadistischen Strenge eines Patres leiden mussten, war es ihnen doch vergönnt, etwas gescheites lernen zu dürfen. Internatskinder waren privilegierte Kinder, Teil einer gesellschaftlichen Elite. Das wussten sie und gab ihnen Identität!
 
Heimkinder hingegen wurden von der Gesellschaft gar nicht wahrgenommen. Denn sie lebten in Gettos, unsichtbar. Harte Arbeit auf Feld und Hof, ohne Anerkennung, das prägte ihr Leben und zeichnete sie. Es gab keine schützende Hand eines Vaters, einer Mutter, und schon gar nicht die schützende Hand des Staates. Denn der Staat, die Behörde, war froh, dass sich selbsternannte, meist fundamental-religiös angehauchte Pädagogen, um sie kümmerten. 
 
Mich wundert und erzürnt es zu tiefst,  dass dieses skandalöse Treiben in unserem Lande so lange unter dem Deckel gehalten werden konnte, und bis heute immer noch ohne Folgen für die Täter blieb. Ich denke, es fällt halt nicht leicht, einzugestehen, dass sich im letzten Jahrhundert, vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg auch bei uns eine Form von Faschismus, nennen wir ihn „Kuckucks(Uhren)faschismus“, breit machte. Die historische Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnhamen muss deshalb zwingend auch mit der Aufarbeitung dieses „Kuckucks(Uhren)faschismus“ verknüpft werden. Ob vielleicht deshalb die Wahrheitsfindung so zäh und schleppend voran kommt?
 
Un caro saluto e a presto,
Sergio