Fachhochschule und Praxis: Eine schwierige Freundschaft!
Man sagt, dass Absolventinnen und Absolventen von Fachhochschulen für Soziale Arbeit zu theorielastig seien. Man sagt auch, dass sie sehr praxisfern ausgebildet würden und zu jung seien. Man sagt auch, dass sie immer weniger in der Lage wären, die im Heimalltag geforderten praktischen Verrichtungen wie die Anleitung zum Kochen, Putzen und Waschen kompetent wahr zu nehmen. Man trauert der Zeit nach, in welcher Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen ausschließlich aus Erstberufen (meist handwerklicher Richtung) stammten und deshalb bodenständiger und handfester anpacken konnten. Welcher Sozialpädagoge und welche Sozialpädagogin ist heute noch in der Lage, ein Velo zu flicken? Darf man dem Fachhochschulabsolventen zumuten, mit den Jugendlichen einen Frühlingsputz des Gruppenhauses durchzuführen? Und wie organisiert man ein Ferienlager, einen Sportevent oder ein Bocciaturnier?
Haben diese Stimmen Recht oder ist die Heimpraxis da vielleicht einem hartnäckigen und für sie willkommenen Vorurteil aufgesessen? Machen wir tatsächlich die Erfahrung, dass mit der neuen Generation von Fachhochschulabsolventen ein Heer von "Gstudierten" die Heime zu bevölkern drohen, Leute, die zwar gut reden, aber wenig tun? Sind wir auf dem Weg zur Zweiklassenpädagogik? Da die Analysten und Theoretiker (Fachhochschüler) und dort die Praktiker und Ausführenden?
Anforderungen an die Sozialpädagogik
Sozialpädagogik ist eine Profession, die sich mit einer Vielfalt von komplexen Lebenssituationen von Menschen konfrontiert sieht. Die Sozialpädagogin, der Sozialpädagoge erwarten Aufgaben, die im Hinblick auf die individuelle Lebenslage, die soziale Situation der Betroffenen und den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext außerordentlich vielschichtig sind. Es wird erwartet, dass er/sie in der Lage ist, individuelle und soziale Situationen und Probleme in ihrem jeweiligen Zusammenhang zu erfassen und zu verstehen, die sich für sie/ihn daraus ergebenden Aufgaben zu erkennen und bei der Problemlösung ressourcenorientiert und systemisch zu arbeiten, vertrauensvolle Beziehungen zu den Kindern und Jugendlichen aufzubauen, zu tragen und sie zur rechten Zeit wieder zu lösen und kooperative Arbeitsprozesse zu einer Vielfalt von Fachdisziplinen herzustellen. Dafür benötigen der Sozialpädagogen ein breites Instrumentarium an Werkzeugen, die sie befähigen, den gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Es sind dies Kenntnisse über zentrale Theorien, Vertrautheit mit dem Grundinstrumentarium der Sozialforschung und Kenntnisse der für das Arbeitsfeld relevanten Rechtsmaterie. Darüber hinaus müssen die Sozialpädagogen befähigt werden, eine Haltung zu entwickeln, die mit den grundlegenden Werten und Normen ihres Berufes übereinstimmen. Ich meine damit die sozial-ethische Kompetenzen, wie Empathie, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit und Reflexionsfähigkeit in Bezug auf das eigene Verhalten und Menschenbild.
Die von mir geleitete Praxisorganisation, wo 30 junge Männer im Alter zwischen 16 und 22 Jahren betreut werden, ist angewiesen auf Fachkräfte, die wohl im praktischen Alltag Hand anlegen können (siehe oben), die aber auch auf hohem Niveau ausgebildet sind. Denn sie sind in ihrem Berufsleben mit der komplexen Diagnose "Dissozialität" konfrontiert, die sich in mannigfaltiger und nicht immer erfreulicher Art und Weise zeigt. Es braucht deshalb Kompetenz für das Benennen einer sauberen Indikation oder Diagnose, es braucht Kompetenz für die Recherche und die Formulierung einer guten Anamnese und es braucht Kompetenz für die Erstellung eines sinnvollen und alltagstauglichen Erziehungsplanes. Was es aber auch braucht, sind Frauen und Männer, die sich ihrer Rolle als Erzieher und Erzieherinnen bewusst sind, die konfrontativ sein können und die, was die Bereitschaft einer aktiven Konfliktaustragung anbelangt, unseren Jugendlichen Vorbild sein können. Und was ebenfalls dazu gehört, ist ein großes Maß anthropologischer Leidenschaft, das heisst, ein reges, offenes und waches Interesse für den Menschen mit all seinen Stärken und Schwächen.
Bologna und die Folgen
Erfüllen die Fachhochschulen die Anforderungen, die die Praxisorganisationen an sie stellen oder wurde die in Bologna gestartete Bildungsautobahn, ohne die dringend nötigen Ausfahrten hin zu den Praxisinstitutionen gebaut? Halten die normierten Hauptzulassungskriterien (Matura oder Berufsmatura) den Anforderungen stand, welche Studierende zu erfüllen haben, oder müsste nicht viel mehr auch der Persönlichkeitseinschätzung der menschlichen Reife und der Lebenserfahrung der Kandidaten Rechnung getragen werden? Führen die generalisierten Ausbildungscurricula tatsächlich zu einer Grundqualifikation für angehende Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen und lässt sich das Erlernte in die Praxis transferieren?
In der Tat haben die Fachhochschulen in den letzten Jahren auf Grund der im Jahre 1999 in Bologna, von den europäischen Bildungsministern unterzeichneten Bildungsreform "Erklärung von Bologna", ihre Programme, Inhalte und Aufnahmekriterien weitgehend standardisiert. Eine Kompatibilität der Studiengänge innerhalb der Schweiz und Europa ist angesagt. Den Studierenden stehen neu eine Vielzahl von Studienprogrammen und Studienorten offen, welche sie mit einem Bachelor und nachfolgend mit einem Master abschließen können. Eine Weiterführung des Studiums auf Universitätsebene steht ihnen unter gewissen Bedingungen ebenfalls offen.
Ist die Zusammenarbeit in Frage gestellt?
Als Folge dieses rasanten Reformprozesses haben die Fachhochschulen die Zusammenarbeit mit der Praxis, und ganz konkret mit den Institutionen der stationären Jugendhilfe, sträflich vernachlässigt. Die klassischen berufsbegleitenden Studiengänge (z.B. BSA Zürich) sind durch modulierte und den Bedürfnissen der Fachhochschule und ihrer Studierenden angepassten Studienprogrammen ersetzt worden. Die Praxisinstitution steht gegenüber dem Studierenden und der Fachhochschule - wie auch umgekehrt - nicht mehr in der vertraglichen Pflicht. Die Kontakte und der Gedankenaustausch zwischen Praxis und Schule sind rar geworden. Die in vielen Jahren gemeinsam aufgebaute Software an Beziehungen, an Projekten und an Erfahrungen zwischen Schulen und Heimen schwindet langsam dahin. Vergessen wir nicht: Es waren couragierte Heimleiterinnen und Heimleiter, die den in den siebziger Jahren legendären berufsbegleitenden Studiengang für Sozialpädagogik ins Leben riefen. Diese Studienformen wurden später in die Schulen für Soziale Arbeit überführt, welche dann zu Fachhochschulen befördert wurden. Dem dualen System einer berufsbegleitenden Ausbildung stand der Gedanke einer starken Verzahnung von Theorie und Praxis Pate, was sich über Jahre auch bewährt hat.
Praxisorganisationen sind für Studierende immer auch lehrende Organisationen. Sie übernehmen für die Studierenden die Verantwortung für den praktischen Teil der Ausbildung. In diesen Praxisfeldern müssen die Studierenden frühzeitig Transferleistungen erbringen zwischen den in der Theorie erworbenen Kenntnissen in unterschiedlichen Fach- oder Sachgebieten und den Anforderungen der Praxis an berufliches Handeln. Das besondere Merkmal einer guten und intensiven Zusammenarbeit mit den Fachhochschulen besteht also darin, eine sinnvolle Verknüpfung von theoretischem Studium mit einer intensiven, systematischen und reflektierten praktischen Arbeit im Heim herzustellen. Die Bildungslandschaft und insbesondere die Fach- und Hochschulen stecken in einem enormen Reformaktionismus. Es zeichnet sich deshalb ab, dass ohne eine überdurchschnittliche Anstrengung seitens der Schulen und der Praxisorganisation die wichtige und nötige Zusammenarbeit langsam zerfällt. Die Praxis erwartet von den Fachhochschulen, dass sie bei der Organisation der Studienprogramme und der Stundenpläne auf die Spezifika der Praxisorganisation Rücksicht nimmt. Damit sie dies tun kann, braucht sie Kenntnis der Strukturen und der Arbeitsabläufe einer Praxisorganisation. Diese Kenntnis kann sie aber nur erwerben, wenn sie einen aktiven und ernsthaften Dialog mit den Praxisfeldern sucht und führt.
Gute Erfahrungen
Die Praxisorganisation, der ich vorstehe, hat schon viele Studierende von Fachhochschulen und früher von Schulen für Soziale Arbeit erfolgreich ausgebildet. Die Erfahrungen mit den Studierenden waren durchwegs positiv. Das theoretische Rüstzeug, welches sie in ihrer Ausbildung bekommen, ist beeindruckend. Es befähigt sie, die komplexen Problemlagen, mit denen sie in der Praxis konfrontiert sind, mit der dafür nötigen Professionalität anzugehen. Ich habe die erfreuliche Erfahrung gemacht, dass auf hohem Niveau ausgebildete Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen durchaus auch in der Lage, fähig und motiviert sind, im praktischen Alltag Hand anzulegen. Denn sie wissen, dass dies genauso zu ihrem Berufsalltag gehört, so wie auch die Analyse und die Reflektion ihres Handelns.
Was mir aber Sorge bereitet, ist die Tatsache, dass sich die Fachhochschulen je länger je mehr von der Praxis wegbewegen. Diese, für beide Partner unheilvolle Entwicklung muss zu denken geben. Ich meine, dass nur ein intensiver gegenseitiger Dialog Klarheit darüber geben kann, was die Praxis von den Fachhochschulen erwartet und umgekehrt. Fehlt dieser Dialog und fehlt die Bereitschaft, einander die Bedürfnisse offen und ehrlich zu kommunizieren, so besteht die Gefahr, dass in Zukunft immer weniger Praxisorganisationen der stationären Jugendhilfe Hand bieten werden, Studierende der Fachhochschulen in ihrem Praxisfeld auszubilden. Ein wichtiges Standbein der dualen Ausbildung würde zum Leidwesen der Praxis fehlen. Und die Ausbildungslandschaft wäre um dieses wertvolle und seit Jahren erprobte Konzept ärmer. Bologna hin oder her!