Gibt es Opfer ohne Täter?
Kürzlich sass ich einem Mann mit weissem Kinnbart gegenüber, der mir mit grosser Eloquenz und engagierter Vehemenz zu erklären versuchte, weshalb er es sich (und wohl auch anderen)inskünftig verbiete, in der Debatte rund um die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen des letzten Jahrhunderts von „Opfern“ und von „Tätern“ zu sprechen. Er rede lieber von „Betroffenen“! Auf meinen Einwand hin, betroffen seien doch alle Menschen, die sich ernsthaft mit der Thematik auseinandersetzten, so wie auch ich sehr betroffen war, als ich vom schrecklichen Bootsunglück an der Küste von Lampedusa vernahm, ohne selber Opfer dieser Katastrophe gewesen zu sein, und dass sich auch Frau Bundesrätin Sommaruga am Gedenkanlass vom 11. April sehr betroffen zeigte, meinte er, dass seien keine plausiblen Argumente. Denn für die Geschehnisse damals, seien wir alle, also die Gesellschaft, verantwortlich gewesen. Von „Opfern“ und vor allem von „Tätern“ zu sprechen spalte die an der Aufarbeitungsdebatte Beteiligten in zwei Lager, was dazu führen könnte, dass sich Teile der „Koalition der Verantwortlichen“ zum Rückzug aus dem „Runden Tisch“ gezwungen fühlen könnten. Merkwürdig: Hat nicht Frau Sommaruga im Dezember letzten Jahres einen Delegierten für die OPFER von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen eingesetzt? Und redete sie in ihrer Ansprache am Gedenkanlass nicht doch immer wieder von OPFERN, denen Leid zugefügt wurde? Gibt es denn Opfer ohne Täter? Ich denke, dass für eine gründliche Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels Schweizerischer Sozialgeschichte die Verantwortlichen von damals deutsch und deutlich benannt werden müssen. Das heisst, die rechtsnachfolgenden Körperschaften, wie die Kirchen, die Verbände und die Behörden stehen jetzt und stellvertretend in Pflicht und Verantwortung. Sie sind es, die einen Schritt auf die Opfer zu zumachen müssen, weil sie die einzigen sind, die die Schuld, welche ihre Vorgänger auf sich geladen haben, wieder gut machen, bzw. abtragen können. Deshalb sollten wir (und insbesondere die Koalition der Verantwortlichen) nicht so verletzlich tun, wenn vorläufig in der laufenden Aufarbeitungsdebatte immer noch von "Opfern" und "Tätern" die Rede ist. Und deshalb empfehle ich dem neuen Delegierten, sich nicht nur als "Delegierter fürsorgerische Zwangsmaßnahmen" zu verstehen (siehe Homepage "Fürsorgerische Zeangsmassnahmen" - Kontakt), sondern, wie dies Frau Bundesrätin damals entschieden hat, wieder als "Delegierter für die OPFER von fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen" aufzutreten.