HEIMLEBEN! Essay erschienen im Buch "Kinderheim statt Kinderzimmer" (Verlag Helden, 2012).

15.09.2012 12:00

 

„Es ist untolerierbar, Kinder ihrer Kindheit zu berauben“ (Giovanni Bonalumi, die Geiseln, 1954) 

 

Der folgende Beitrag ist eine Reise durch 60 Jahre Heimerziehung. Es sind persönliche Erinnerungen und Erlebnisse, die dem Artikel den Rahmen geben. Die in Anführungszeichen gesetzten Zitate sind Referatstitel von Vorträgen, gehalten an den jährlich stattfindenden Fortbildungstagungen, die seit 1927 vom Schweizerischen Verband für erziehungsschwierige Kinder und Jugendliche (SVE), heute Fachverband für Sozial- und Sonderpädagogik (Integras), angeboten werden.   

 

„Oh, diese Buben...“ 1954

 

Was unterscheidet heute ein Heimkind von einem Familienkind? Optisch nichts. Im Gegensatz zu früher kleidet sich das Heimkind zeitgemäss. Es wird gleichberechtigt beschult, geht ins Ballet oder reitet Pferde. Es besucht, wenn Bub, vielleicht einen Kampfsport oder spielt Fussball. Das Heimkind kennt sich in der Musikszene aus, streamt Titel auf den IPod und bearbeitet mit aller Selbstverständlichkeit das eigene Profil auf Facebook. Will heissen: Das Heimkind hat sich emanzipiert. Es trägt kein sichtbares Stigma mehr, was gut ist. 

 

„Anstalt heute“ 1939

 

Denn vor nicht all zu langer Zeit, in den 40er, 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, da war alles anders. Man erkannte das Heimkind auf der Strasse - wenn es überhaupt mal öffentlich in Erscheinung trat - an seinem Äusseren. Meist trug es geschenkte Kleider aus zweiter Hand, nichts Modisches, aber fest im Stoff. Wochentags Arbeitskleider und grobes Schuhwerk. Im Sommer - und der dauerte, nach Definition des Heimvaters, von April bis Oktober -  "durfte" es barfuss gehen, der Gesundheit zum Wohle. Nur sonntags, zum Kirchgang, da trug das Heimkind ein festliches Gewand. Knickerbockers! Die waren verhasst, weil Familienkinder schon lange mit Bügelfalten, Röhrenhosen und Jeans prahlten. Nach der Sonntagspredigt verschwanden die Knickerbockers und die dazugehörige gleichstoffliche Jacke, nach gründlicher Reinigung, wieder im Schrank. Die Haare des Heimbubs wurden kurz gehalten. Das Heimmädchen trug sie gebunden und ordentlich aufgesteckt.

 

Und immer roch der Heimbub nach Stall.

 

Überall, in der Schule, im Konfirmandenunterricht, in der Kirche, beim Essen oder beim seltenen Spielen. Der Geruch von Mist und Gülle war allgegenwärtig. Die Kleider waren durchdrungen davon und auch die Poren seiner Haut. Die Mädchen rochen nach Seife und Waschpulver, denn es war ihre Aufgabe, die Heimwäsche zu kochen. Geduscht oder gebadet wurde einmal in der Woche, samstags! Es sei denn, das Heimkind nässte ein. Dann wurde es aufgefordert, mitsamt seiner, nach Urin riechenden Bettwäsche und unter den Augen der Mitzöglingen, einem Spiessrutenlauf gleich, den weiten Weg zur Waschküche zu gehen und dort die Leintücher und sich selber mit kaltem Wasser zu reinigen.

 

„Selbstverwaltung und Selbstgestaltung“ 1952

 

Heimkinder hatten keinen Zugang zur Gesellschaft. Sie lebten abgeschottet unter sich. Ihr Alltag spielte sich hinter den Mauern der Anstalt ab. Das kleine und grosse Weltgeschehen blieb ihnen weitgehendst verborgen. Heimkinder hatten keinen Radioempfang und durften keine Musik hören, von Zeitungen und Zeitschriften ganz zu schweigen. Sie wuchsen fern der damaligen Realitäten auf. 

 

„Herkunft und Veränderungen in der Entwicklung der Heimkinder“ 1986

 

Eine grosse Zahl der Heimkinder und Heimjugendlichen waren unehelich geboren worden. "Illegal-Geborene", wie sie im lateinischen Sprachraum noch heute genannt werden. Viele von ihnen kannten weder Mutter noch Vater. Sie wuchsen ohne die verlässlichen und unsichtbaren Familienbindungen auf. Besuche waren selten. Wenn der Vormund mal vorbeischaute, so interessierte er sich wenig für das Mündel. Eher sass er mit den Heimeltern zu Tisch, ass und trank mit ihnen, als dass er sich um die Sorgen und Nöte des Kindes kümmerte.

 

Versorgt wurde schnell und unbürokratisch. Meist für die Dauer eines Kindslebens und ohne Einwilligung der Mutter. Die frühe Entwurzelung und Muttertrennung führte bei vielen Heimkindern zu seelischen Mangelerscheinungen, die sie auf ihre eigene Art zu kompensieren versuchten: Bettnässen und Schlafschaukeln.      

 

„Gehorchen und Dienen“ (1945)

 

Die allermeisten Heime und Anstalten standen in der Pflicht der Kirche. Der Staat kümmerte sich wenig um das Innenleben dieser Institutionen. Er war froh und dankbar, wenn selbsternannte Pädagogen, denen in der Regel eine adäquate Ausbildung fehlte, diese Aufgabe übernahmen. Ihr Leitbild: Beten und Arbeiten! Die fundamental-religöse Alltagserziehung war streng und unerbittlich. Bibelkunde am Morgen, Bibelkunde am Abend. Dazwischen Gebete. Das Kind lernte früh und nach Massgabe der Heimeltern zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Böse waren Mutter und Vater, die es gezeugt und dann verlassen hatten. Böse waren die Gedanken des Zweifelns, die Sehnsüchte nach Familie, Geborgenheit, Liebe und Berührung. Böse war die Entdeckung der keimenden, eigenen Sexualität und böse waren auch die ersten scheuen Blickkontakte zum anderen Geschlecht. Böse war alles was Lust machte. Das Heimkind lebte in ständiger Angst, die streng- religiösen Moralvorstellungen in Gedanken zu verletzen und nicht zu genügen. Alles wurde der Frömmigkeit unterordnet. Das Heimkind hatte immer dankbar zu sein. Dankbar, dass es zu Essen bekam, dankbar, dass es ein Bett hatte und dankbar, dass es Kleider tragen und arbeiten durfte.

 

Es durfte nie klagen und anklagen, keine Wut und keine Trauer zeigen und sich nichts wünschen.

 

Das Heimkind hatte zu gehorchen! Eine Ich-Stärkende Erziehung, die zum Ziel gehabt hätte, das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl des Kindes zu fördern, fehlte. Stattdessen wurde mit strenger Hand jegliche Verfehlung geahndet. Demütigungen aller Art wurden konsequent als Korrektionsmittel eingesetzt: Essensentzug, Schläge, Zimmerarrest, das Abschneiden der Haare usw. Das Heimkind hatte keine Mitsprache und keine Möglichkeit der Verteidigung. Es stand alleine da und lernte so schon früh, was Einsamkeit bedeutet.

 

„Schwererziehbarkeit und Intelligenz“ (1947)

 

Der Schulbildung der Heimkinder schenkte man wenig Aufmerksamkeit. Denn immer, wenn sie die Schulbank drückten, fehlte ihre Arbeitskraft im Hof und auf dem Feld. Man begnügte sich damit, die Heimkinder einigermassen unbeschadet durch die obligatorischen Schuljahre zu schleusen. Unterrichtet wurden sie in klassenübergreifenden Grossgruppen, vornehmlich von den gleichen Mitarbeitenden, den sogenannten Onkeln und Tanten, welche sie am Morgen aus den Betten holten und am Abend wieder ins Bett brachten. Hauptlehrer war in vielen Fällen der Hausvater selbst. Er war omnipräsent und omnipotent und in allen Dingen des Heimgeschehens letzte Instanz. Die wenigsten Heimkinder hatten das Glück, in die Sekundarschule aufzusteigen und ganz selten bis nie durfte ein Heimkind in die Kantonsschule (Gymnasium) wechseln. Wenn doch, dann war es einem sogenannten Onkel, einer sogenannten Tante oder dem Heimvater zu verdanken, bei denen das Heimkind in besonderer Gunst stand. Auch im Schulzimmer war der Herrgott allgegenwärtig. Bevor man zum Pflichtunterricht schritt, wurde gebetet, gesungen und in der Bibel gelesen. Die Schulpausen nutzte man für die körperliche Ertüchtigung. Der kindlichen Spiellust schenkte man keine grosse Aufmerksamkeit. An schulfreien Tagen und in den Schulferien wurde gearbeitet. Fürs Spielen blieb einzig der Sonntag-Nachmittag, es sei denn, das Heu musste eingebracht  oder das Obst geerntet werden.

 

„Feldarbeit als Erziehungsmittel“ (1950)
 

Ja, die Arbeit. Sie dominierte den Alltag der Heimkinder von morgenfrüh bis zum Eindunkeln, sechs Tage die Woche. Zu jeder Jahreszeit und bei jeder Witterung sah man feingliedrige Buben und Mädchen in den weitläufigen Feldern und Gärten am schuften. Sie säten aus, jäteten und ernteten was das Zeugs hielt und dies immer unter strenger Kontrolle und Aufsicht ihrer Erzieher.

 

Es war staatlich tolerierte Kinderarbeit,

 

die da von Buben und Mädchen geleistet wurde, ohne Entschädigung und ohne Dank! Die Heime waren auf die "Mitarbeit" der Heimkinder angewiesen. Nur so konnten sie überleben, denn die bescheidenen Kostgelder reichten für den Betrieb des Heimes bei weitem nicht. Die Arbeit war aber nicht nur Selbstzweck, sie war auch pädagogisches Programm. So kamen die Heimkinder nicht auf schlechte Gedanken. Die Zöglinge mussten früh an ein arbeitsames und bescheidenes Leben herangeführt werden, denn das war ihre Zukunft! Die strenge körperliche Arbeit hat bei vielen Heimkindern Spuren der Zerstörung hinterlassen; an Körper und Seele.

 

„Anstaltszöglinge und Eigentum““ (1953)

 

Heimkinder wuchsen in Grosskollektiven auf. Sie assen in Speisesälen und schliefen in Schlafsälen. Der Kirchgang und der Spaziergang am Sonntag geschah immer in grosser Formation. Auch das Duschen am Samstag erwarteten die Heimkinder in Kolonne.

 

Ein privater Rückzug war ihnen nicht erlaubt,

 

es fehlte auch die räumliche Struktur hierfür. Für die wenigen persönlichen Sachen stand ihnen ein kleines Nachttischchen neben dem Bett zur Verfügung. Darauf oder darin hatten vielleicht ein Leuchtkäfer, den das Heimkind im Sommer draussen auf der Wiese gefangen hatte oder ein Jesusbild, das ihm geschenkt wurde, Platz. Kleider, Schuhe, Schulmaterial und die wenigen Spielsachen wurden in gesonderten Räumen unter Verschluss gehalten und nur dann herausgegeben, wenn die Notwendigkeit gegeben war. Die seltenen Süssigkeiten, die das Heimkind vom Götti, der Gotte oder selten vom Vormund zum Geburtstag und an  Weihnachten geschenkt bekam, landeten im Korb der Allgemeinheit und wurden vom Hausvater, nach von ihm definierten Spielregeln, an alle verteilt. Der Verzehr einer Tafel Schokolade z.B. konnte so durchaus  Wochen oder Monate in Anspruch nehmen.

 

„Sparmassnahmen und richtige Ernährung“ (1939)

 

Die Ernährung war gesund! Auf dem Teller fand das Heimkind all das wieder, was es in harter Arbeit gepflanzt, gesät und geerntet hatte. Kartoffeln in allen Variationen, Gemüse, Getreide. Selten Fleisch. Zur Stärkung der Knochen gab’s im Winter flüssiger Lebertran, welcher im morgendlichen Haferbrei landete, sollte sich das Heimkind verspätet haben. Der Kaffee und das Konfibrot blieben dem Hausvater vorbehalten.

 

„Probleme der nachgehenden Fürsorge im Heim“ (1962)

 

Die grösste Herausforderung für das Heimkind war die „Zeit danach“. So wenig während des Heimaufenthaltes darüber geredet wurde, WOHER es kam, so wenig wurde mit ihm die Frage nach dem WOHIN erörtert. Irgendwann stand einfach sein Köfferchen mit den wenigen Habseligkeiten bereit. Viele Heimkinder wurden als Verdingbuben zu Bauern vermittelt, wo sie strenge Knechtarbeit zu verrichten hatten. Die privilegierteren unter ihnen durften – durch Vermittlung des Vormundes – eine Lehre beginnen, meist handwerklicher Richtung oder in der Landwirtschaft.

 

Gross war die Zahl der ehemaligen Heimkinder, die bei Heimaustritt in eine Einsamkeitsfalle rutschten,

 

von der sie sich, wenn überhaupt, nur schwer erholten. Bittere Armut, Ausgrenzung und Isolation waren die Folgen. Nun standen sie alleine und verlassen da. Das Heimweh und die Trauer ob des Verlustes des wärmenden Stalles, der Tiere und der Gemeinschaft von Menschen waren immens. Eine Nachgehende Fürsorge, eine Beratungs- und Anlaufstelle oder gar eine therapeutische Unterstützungsmöglichkeit fehlten.

 

„Heim und Öffentlichkeit. Informationsmöglichkeiten und Informationspflicht“ (1968)

 

Und dann, endlich, kam Bewegung in die Heime. Sie erschütterte das selbstgefällige Selbstbewusstsein vieler sogenannten Heimväter und Heimmütter und löste landesweit eine heftige Diskussion darüber aus, was Heimerziehung darf und was nicht.

Parallel zu den Studentenunruhen der sechziger Jahre wuchs die Kritik an den ungeeigneten, herabwürdigenden und willkürlichen Erziehungsmethoden in den Heimen. Es entstand der Begriff der „schwarzen Pädagogik“, womit auf „die Installation eines gesellschaftlichen Über-Ichs im Kind, auf die Heranbildung einer grundsätzlichen Triebabwehr in der Psyche des Kindes, die Abhärtung für das spätere Leben und die Instrumentalisierung von Körperteilen und Sinnen zugunsten gesellschaftlich definierter Funktionen“ hingewiesen wurde.

Giovanni Bonalumi hat in seinem autobiographischen Roman „die Geiseln“ die Anklage an die Heimerziehung der schwarzen Pädagogik nicht treffender formulieren können: „Es ist untolerierbar, Kinder ihrer Kindheit zu berauben“

 

„Film und Fernsehen: Information und Belehrung – Unterhaltung und Manipulation des Menschen“ (1965)

 

1970 schrieb Ulrike Meinhof das Drehbuch für den Film „Bambule“, in welchem sie den autoritären Methoden in der damaligen Heimerziehung ein Gesicht gab. Sie löste damit, nicht nur in Deutschland, eine Protestbewegung aus, die unter dem Namen „Heimkampagne“ berühmt werden sollte. Auch in der Schweiz erschütterte die „Heimkampagne“ das Anstaltswesen. Begleitet wurde sie von der Betroffenenliteratur eines Carl Albert Loosli, der schon in der 30iger Jahren in seinem Werk „Anstaltsleben“ die Heime an den Pranger stellte und Reformen forderte. Arthur Honegger und Alexander Ziegler folgten in den siebziger Jahren mit ihren Anklagebüchern „Die Fertigmacher“, „Kein Recht auf Liebe“ und mit dem Theaterstück „Willkommen in Marienthal“. Die Roten Steine, eine politische Rockergruppe aus Zürich, Aktivisten der Studentenbewegung und linke junge Juristen mischten kräftig mit. Sie halfen Jugendlichen zur Flucht, boten ihnen temporär Unterkunft an und prangerten in Manifesten das selbstherrliche Machtgebaren der Heimverantwortlichen schonungslos an.

 

 

Endlich wurde öffentlich ausgesprochen, was Heiminsassen während vieler Jahre in stiller Demut erdulden mussten. Missbräuche aller Art, Schläge im Namen des Herrn, Essensentzug, Kinderarbeit, religiöse Beeinflussung, usw. In der dunklen Zeit der “schwarzen Pädagogik“ schloss die Scham und die verinnerlichte Schuldzuschreibung den Heimkindern den Mund und möglicherweise sogar die Erinnerung. Nun waren es die „Täter“, denen Schuld zufiel ob dem Leiden, das sie den ihnen zur Unterstützung, zu Hilfe und Geborgenheit anvertrauten Kindern und Jugendlichen angetan haben. Endlich wurde den Betroffenen Raum für die Erzählung gewährt. Einige der Heimkinder, die lange geschwiegen hatten, aus Scham, aus anerzogener und falsch verstandener Bescheidenheit, aus dem Gefühl heraus, an allem selber Schuld gewesen zu sein, wollten nun reden. Die meisten aber blieben stumm. Und sie finden bis heute keine Worte, um das ihnen zugefügte Leid zu umschreiben und Genugtuung zu fordern. Viele Heimkinder liessen ihre Heimvergangenheit bis ins hohe Alter im Dunkeln, aus Angst, erneut benachteiligt zu werden.

 

Der Preis: Eine verleugnete eigene Biografie, mit der sich das Heimkind ein Leben lang nicht zu identifizieren vermochte.

 

Die Folgen der Heimkampagne zeigten Wirkung, auch wenn einige Verantwortliche der Heimerziehung hartnäckig den Einfluss der Protestbewegung auf die Reformen für gering hielten. Wie wohl auch! Hätten sie das Gegenteil eingestanden, es wäre einem Schuldbekenntnis gleich gekommen.

 

„Atmosphäre als zwischenmenschliche Realität“  (1967)

 

An einer Tagung im Dezember 1970 unter dem Titel „Erziehungsanstalten unter Beschuss“ – bekannt geworden auch als „Rüschlikoner Tagung“ – diskutierten über 400 Teilnehmende, darunter nebst Heimleitenden und Aktivisten der Heimkampagne auch zahlreiche Betroffene über Sinn und Unsinn der Heimerziehung. Nach vielen Voten und sehr engagierter Diskussion stellten die Teilnehmer in einer Resolution u.a. fest:

 

  • dass Erziehungsheime Spiegel gesellschaftlicher Problematik sind. Es besteht die Gefahr, dass Erzieher und Institutionen zu Trägern überholter Systeme werden. Diese Tendenzen müssen daher reflektiert und bekämpft werden,
     
  • dass Erziehungseinrichtungen für Jugendliche im Einzug grösserer Städte liegen und nicht in ländlicher Abgeschiedenheit,
     
  • dass Bau und Betrieb entsprechender Einrichtungen gesamtschweizerisch – mindestens aber im Bereich der Konkordatskantone – koordiniert werden sollten,
     
  • dass der Ausbau der ambulanten Beratungs- und Betreuungsdienste sowie die Entwicklung von alternativen Lösungen intensiviert wird.
     
  • dass risikofreudige Mitarbeiter angefangene Experimente zu Ende führen,
     
  • dass das Wohlwollen der Gesellschaft und die Mitarbeit eines Einzelnen nötig sind, dass unsere Heime auf eine vernünftige Grundlage gestellt, mithin die Beiträge von Bund, Kantonen und Gemeinden ganz erheblich erhöht werden,
     
  • dass alle menschenunwürdigen Zustände und alle brutalen formen von Disziplinarmassnahmen, Schikanen, Demütigungen und Kränkungen abgeschafft werden,
     
  • und dass die Heimzöglinge ab sofort spüren, dass diese Tagung engagierter Menschen stattgefunden hat.

 

Fast alles, was in der „Rüschlikonerresolution“ gefordert wurde, ist im Laufe der folgenden Jahrzehnte umgesetzt und realisiert worden. Fast alles! Denn noch immer werden einzelne Jugendheime weit abseits von Ballungszentren betrieben, an Orten also, wo wenig Kontaktmöglichkeiten zur Gesellschaft bestehen und von wo aus die Wiedereingliederung der Jugendlichen deswegen erschwert bleibt. Und noch immer sind Jugendheime in historischen Gebäuden untergebracht die per se schon stigmatisierend auf ihre Insassen wirken, anstatt diese Gebäude ihrem natürlichen Zweck zuzuführen, d.h. Museen aus ihnen zu machen.

 

„Erziehungsschwierige heute – Folgerungen für die Heimpädagogik“ (1986)

 

Immerhin! Aus Schlafsälen sind Zimmer, aus Speisesälen Esszimmer und aus Aufenthaltsräumen Stuben geworden. Heimväter und Heimmütter, sogenannte Onkel und Tanten, Patres und Schwestern wurden Heimleiter, Heimleiterinnen, Erzieher und Erzieherinnen. In den Schulstuben unterrichteten Lehrer. Das Heimkind durfte sich nun kleiden, wie das Familienkind sich kleidet und die Arbeit war nicht mehr so streng. Man begann, dem Heimkind zu erklären, warum es im Heim war. Für die Aufarbeitung seiner traumatischen Kindheitserlebnisse installierte man, flankierend zur pädagogischen Arbeit, psychologische und therapeutische Programme. Fortan stand weniger die Institution und ihre Repräsentanten im Mittelpunkt, sondern das Heimkind mit seinen Problemen. Die Öffentliche Hand, die lange Zeit beschämend abseits stand, griff ins Geschehen ein. Sie erkannte, dass Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern aufwuchsen, die schützende Hand des Staates benötigten, weshalb sie ihre Staatsbeiträge an fachliche Rahmenbedingungen knüpfte und die Kontrollen in den Heimen verstärkte. Interessant ist auch ein sprachliches Detail, das mit den Reformen einherging. Mit der Bezeichnung „Heim“ versuchte man in den siebziger Jahren den Ausdruck „Anstalt“ zu ersetzen, wohl deshalb, weil dieser in der Öffentlichkeit, nicht zuletzt Dank des Einflusses der Heimkampagne und der Medien, anrüchig geworden war. Heute spricht in Fachkreisen fast niemand mehr vom „Erziehungsheim“. An seine Stelle sind sozialpädagogische Kompetenzzentren, Jugendsiedlungen, therapeutische Gemeinschaften, Institutionen der stationären Kinder- und Jugendhilfe und Berufsbildungsheime getreten.

 

Doch „Heim“ bleibt „Heim“. Die breite Öffentlichkeit nimmt es immer noch als Ultima Ratio wahr, als Ort, wo böse Buben und Mädchen versorgt werden und als Metapher, mit welcher im Familienalltag unangepassten Kindern gedroht werden kann.      

       

Heimerziehung als Feld der Forschung? Probleme und Ansätze. (1974)

 

Höhere Fachschulen und Fachhochschulen bildeten wacker Heimerzieher, Heimerzieherinnen, Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen aus, worauf die Qualität der Arbeit in den Heimen erheblich verbessert wurde. Auch die Universitäten entdeckten das Heim als Forschungsfeld. Was in den Nachkriegsjahren schon längst hätte untersucht werden sollen, ist in den 70er Jahren nachgeholt worden, nämlich, welche Wirkung eine Erziehung zum selbstbewussten Kind bei ihm auszulösen vermag. Denn die auf Reglementen und starren Positionen verharrende Heimerziehung beherrschte in manchen Erziehungsheimen noch lange das Feld. Es ist der Universität Zürich Lob dafür zu zollen, dass sie trotz Widerständen vieler Heimleitenden dem Forschungsprojekt gegenüber, wissenschaftlich nachweisen konnte, „dass, die auf „Ich-Stärkung“ ausgerichteten Heime einen wesentlichen Beitrag zur Steigerung der Selbstkontrolle ihrer Insassen leisteten. Dieser Befund ist bedeutsam, weil mangelnde Selbstkontrolle ja oft als Einweisungsgrund in ein Heim angeführt wird.“

 

Klar ist es zu begrüssen, dass sich die Heimerziehung überholter Zöpfe entledigt hat und heute in modernem Gewand daherkommt: Die Ausbildungsquote des Personals in den Heimen ist dank den bindenden Richtlinien des Bundes, der seine Subventionszahlungen an Heime damit verknüpft, hoch. Die Wohngruppen ähneln immer mehr Großfamilien. Die pädagogisch-therapeutischen Massnahmen werden gezielt auf die Bedürfnisse der einzelnen Kinder und Jugendlichen abgestimmt. Auch die Bildungschancen von Heimkindern haben sich verbessert. Sie lassen sich durchaus mit den Möglichkeiten von Familienkindern vergleichen.

 

„ Erziehungsverantwortung trotz allem“ 1983

 

Doch muss auch auf die Schattenseite dieses erfolgreichen Prozesses hingewiesen werden. Was von Staates wegen verlangt, gefördert und gefordert wurde, wird nun von Staates wegen wieder in Frage gestellt. Denn Heimerziehung ist teuer geworden, zu teuer, sagen Behörden. Man schaut die Fremdplatzierung immer mehr durch das Glas des Geldes an. Weil dafür die Gemeinden zuständig sind, müssen sie auch für die hohen Heimkosten aufkommen. Kleinere Gemeinden sind heute dazu kaum in der Lage. Will heissen, man weicht auf billigere Angebote aus. Mehrere tausend Kinder und Jugendliche sind heute wieder bei Bauern und Pflegefamilien fremdplatziert, die kaum über das nötige Fachwissen verfügen. Meist stammen diese Kinder und Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen. Die Sozialbehörden der Gemeinden delegieren die Platzierung und Betreuung immer häufiger an private Firmen. Das Geschäft ist lukrativ und die Kontrollen meist lasch. In den meisten Kantonen brauchen solche Firmen nicht einmal eine Bewilligung. Nicht selten geht bei diesem Geschäft das Kindswohl verloren. Ein modernes Verdingkinderwesen? Es scheint fast so. Solange die Bestimmungen und Reglemente fehlen, solange wird man dieser skandalösen Vermittlungspraxis nicht Herr werden. Zu leiden haben einmal mehr Kinder und Jugendliche, die keine Möglichkeit haben, ihre Bedürfnisse und ihre Wünsche adäquat zu formulieren und anzubringen. Gefordert sind deshalb griffige Gesetze auf Bundesebene, die den Schutz benachteiligter Kinder und Jugendlicher gewährleisten und dem Wildwuchs privater und auf Eigennutz fokussierter Plazierungsorganisationen ein Ende setzen.

 

Wie gesagt: Heute unterscheidet sich das Heimkind äusserlich nicht mehr vom Familienkind. Und doch: Es leidet immer darunter, dass es kein Familienkind sein darf. Es fühlt sich minderwertig und schuldig. Das Heimkind ersehnt sich allzeit Vater und Mutter an seine Seite, es träumt  von Familie und häuslicher Geborgenheit und hofft, dass sich dieser Traum, dieses Glück, eines Tages einstellen möge. Das Heimkind trägt ein Leben lang unsichtbare Narben von Verletzungen in sich, Verletzungen, verursacht durch ungewollte Trennungen, Entwurzelungen und Enttäuschungen. Es wird fortwährend von der Angst begleitet, das im Laufe des Lebens zaghaft gewonnene Vertrauen zu Menschen und zur Heimat wieder zu verlieren. Heimat verstanden als Orientierungssicherheit und als verlässliche Beziehungen und Erfahrungen.

 

Sergio Devecchi, September 2012