MUT! Beitrag zum Themenheft der Stiftung Hirslanden.
05.05.2015 16:57
Mut:
Eine ganz persönliche Erfahrung
Irgendwann Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Der Sommer waren heiss und lang. Und wieder einmal durfte ich zu meiner Gotte, ins tiefe Aargauischen, eine Woche Ferien machen. Gotte Hulda war eine fromme Frau. Lieb, hervorragende Köchin und sehr Bibelfest.
Und so kam es, wollte ich mit den Dorfkindern in die nahegelegene Badanstalt schwimmen gehen, sie den Kauf der Eintrittskarte an die Bedingung knüpfte, ihr zwei Psalmen auswendig vorzutragen. Einen kurzen und einen langen. Als kurzen wählte ich Psalm 23: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln… Beim langen hatte ich etwas mehr Mühe mit der Auswahl, da Gotte Hulda hartnäckig darauf bestand, dass er mindestens 20 Verse haben musste. Also entschied ich mich für Psalm 49: Die Herrlichkeit der Reichen ist Trug und Schein… Dieser Psalm hat 21 Verse und meine Auswahl war ein kleiner bösartiger Seitenhieb an ihren Bruder Alfons, dem sie den Haushalt führte. Denn Alfons war Besitzer eines schnittigen Lancias und den Genüssen dieser Welt sehr angetan.
Nach bestandener Psalm-Prüfung rannte ich los, und zusammen mit den Dorfkindern betrat ich die Badanstalt mit dem 10-Meter Springturm als Attraktion. Beeindruckt schaute ich den Knaben und Mädchen zu, wie sie mutvoll und virtuos vom hohen Turm sprangen. Und plötzlich fragte mich Dieter, ob ich es auch schaffen würde, von dort oben zu springen. Natürlich! Mit klopfendem Herzen, schweissigen Händen und weichen Knien stieg ich hinauf zur Plattform, immer unter der strenger Beobachtung der Knaben und Mädchen unten auf dem Rasen. Auf allen Vieren und mit grosser Angst schob ich mich vorwärts aufs Sprungbrett, schaute bange hinunter aufs glitzernde Wasser und augenblicklich wusste ich:
Ich werde nicht springen. Mir fehlte der Mut.
Beschämt trat ich den Rückzug an. Unten angekommen empfing mich Spott und Hohn.
Erst viele Jahre später erkannte ich, dass ich damals, an diesem heissen Sommer in den 50er-Jahren, im tiefen Aargauischen, hoch oben auf der Plattform einer Badanstalt und unter den strengen Blicken meiner Gspähnli außergewöhnliches geleistet hatte.
MUT zur Umkehr!
Und so bin ich heute noch stolz darüber, dass ich damals nicht gesprungen bin. Denn wäre ich gesprungen, hätte mein falsch verstandenes Heldentum auch lebensbedrohende Konsequenzen haben können. In die Badi bin ich dann verständlicherweise nicht mehr gegangen. Und so wurde ich von Gotte Hulda auch nicht mehr genötigt, Psalmen auswendig zu lernen.