Rede zum Jubiläum „30 Jahre Jugendstätte Bellevue“
Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Kolleginnen und Kollegen
Liebe Freunde
Es ehrt mich, dass Sie mir die Aufgabe übertragen haben, zum Fest „30 Jahre Jugendstätte Bellevue“ die Laudatio für das Geburtstagskind halten zu dürfen. Es ehrt mich so wie damals, als ich wieder einmal das Bellevue besuchte und Monika Nagl mich einer hier wohnenden Jugendlichen mit den Worten vorstellte: „Das ist der Gründervater“. Gerührt war ich schon, auch wenn ich mich augenblicklich sehr, sehr alt fühlte!
Doch vornweg eine Bemerkung und eine sanfte Richtigstellung. Gemäss gedrucktem Programm sollte ich „zur Entwicklung der stationären Jugendhilfe für weibliche Jugendliche in den letzten 30 Jahren“ zu ihnen sprechen. Das fällt mir insofern nicht leicht, da ich - wie die meisten von Ihnen sicherlich wissen - die letzten 25 Jahre meiner beruflichen Tätigkeit nicht mit jungen Frauen, sondern mit jungen Männern verbrachte. Ich möchte mich deshalb bei der LIwJ (Leitungen Institutionen weibliche Jugendliche) – vor 30 Jahren hiess diese Organisation noch ATH (Arbeitsgemeinschaft Töchterheime) - nicht in Teufelsküche begeben als einer, der so unverschämt und selbstbewusst zu einem Thema redet, von dem er im Grunde genommen nichts zu verstehen hat, und, ehrlich gesagt, auch nicht sehr viel versteht.
Meine beruflichen Erfahrungen mit weiblichen Jugendlichen im stationären Bereich beschränken sich nämlich auschliesslich auf die dreieinhalb Gründerjahre der Jugendstätte Bellevue von 1984 – 1987, auf meine heutige und seit fünf Jahren ausübende Funktion als Präsident der Stiftung Hirslanden, dem Sozialpädagogischen Zentrum für junge Frauen in Zürich, und auf meine derzeitige Beratertätigkeit in Russland, wo ich im Auftrag des EDA, des Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten, als Fachexperte mithelfe, gemeinsam mit den Russischen Fachkolleginnen und Kollegen vor Ort Reformen in den Kolonien für junge Frauen umzusetzen. Ich werde also in meiner Laudatio haarscharf am Referatstitel vorbei schrammen und nur dort, wo ich mich sattelfest, kompetent und auch berechtigt fühle, auf die Titelthematik eingehen.
Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen auch über die nicht leichte Geburt des Geburtstagskindes etwas erzähle und von den Gegebenheiten, die uns damals alle, die wir im Bellevue und um das Bellevue herum zu tun hatten geprägt waren.
Damals, als ich zum ersten Heimleiter der Jugendstätte Bellevue ernannt wurde (es war im November 1983 und ich komme darauf zurück), fand gerade ein allgemeines Heimsterben von Institutionen der weiblichen Jugendhilfe statt. Davon betroffen waren das Jung Rhy, hier an diesem Ort, als die Nachfolgeinstitution des „Guten Hirten“, das Mädchenheim Lutzenberg, ganz in der Nähe, das Mädchenheim im Zürcherischen Richterswil, das Töchterheim Riesbach ebenfalls Zürich, wenig später das Sunnehuus in Winterthur und vorübergehend auch das Töchterheim Hirslanden in Zürich.
Alle diese Heime mussten ihre Tore schliessen; sei es wegen mangelnder Nachfrage; sei es weil als alternative zum Heim, verstreut im ganzen Lande, sogenannte therapeutische
Wohngemeinschaften wie Pilze aus dem Boden schossen; sei es aber auch, weil einige der konventionellen Heime den Anforderungen der Versorgerschaft an eine zeitgemässe Arbeitsweise und an zeitgemässen Konzepten nicht mehr Rechnung trugen. Stichwort z.B. berufliche Ausbildung im Heim. Kam noch hinzu, dass der Bedarf an gesicherten Plätzen (geschlossene Unterbringung) gross war, aber keine der damaligen Heimträgerschaften gewillt war, hier Hand zu bieten. Der Bund, die Kantone, und die Versorgerschaft fürchteten zu Recht einen Versorgungsnotstand!
Und dann war da noch der Gesetzgeber, der 1971 in einer Teilrevision neu die Artikel 93bis und 93ter (Therapieheime und Anstalten für Nacherziehung, ANE) ins Strafgesetzbuch aufnahm und so die Kantone verpflichtete, innerhalb von 10 Jahren die entsprechenden Einrichtungen auf die Beine zu stellen. Für die besonders schwierigen jungen Männer wurden plus minus fristgerecht zwei Anstalten für Nacherziehung errichtet (Preles und Aarburg). Bei den weiblichen Jugendlichen aber haperte es gewaltig. Es schien fast so, als wollte sich niemand die Finger damit verbrennen; was Angesichts der damals stark politisch ideologisierten Diskussion für oder gegen geschlossene Heime verständlich war. Es bedurfte der mehrmaligen Ermahnung seitens des Bundes, bis sich, drei Jahre nach abgelaufener Frist, auch für die weiblichen Jugendlichen etwas tat!
Denn da trat die Stiftung Bellevue auf den Plan!
Rückblickend gesehen war es ein sehr mutiger Schritt von dieser Trägerschaft, gemeinsam mit dem Standortkanton St. Gallen und dem Kanton Zürich, die mit happigen Frankenbeträgen das Projekt unterstützten, hier in Altstätten ein Heim mit integrierter Anstalt für Nacherziehung nach Art. 93ter, eine ANE also, aufbauen und führen zu wollen. Sie wussten um den Widerstand der ihnen entgegenschlagen wird, doch sie taten es trotzdem! Chapeau!
Mutig aber auch, mich als Leiter dieses Mammutprojektes engagiert zu haben. Denn, so ich ehrlich sein will, hatte ich von der Arbeit mit jungen Frauen und von der Führung eines Heimes gelinde gesagt keine Ahnung. Das sah auch der Schreinerhandwerker, der, während er meine neue Bürotüre montierte, trocken bemerkte: „Sie sind aber scho no huere jung für so nen Lade“. Wie Recht er doch hatte! Denn, wie schon gesagt, meine bescheidenen Erfahrungen als Heimerzieher (so nannte man uns damals) sammelte ich als Gruppenleiter mit Burschen und in der Drogenarbeit!
Zwei einschneidende Ereignisse liessen mich stark zweifeln, ob ich die mir angebotene Stelle überhaupt annehmen wollte. Das Vorstellungsgespräch nämlich, fand an einem regnerischen Novembertag des Jahres 1983 in Zürich statt, im Walcheturm, dem damaligen Sitz des Zürcher Jugendamtes. An einem grossen ovalen Tisch war die Crèm de la Crèm der Zürcher Jugendjustiz versammelt mit darin verstreut auch ein paar prominente St. Galler Honoratioren, wie die damalige Jugendstaatsanwältin und spätere Stadträtin Helen Kaspar. Ich musste das Vorstellungsgespräch wohl einigermassen befriedigend überstanden und die Anwesenden von meinen pädagogisch-administrativen Fähigkeiten überzeugt haben, denn noch Gleichentags und zu meiner grossen Überraschung, wurde mir telefonisch vom damaligen Jugendstaatsanwalt Hermann Brassel mitgeteilt, ich hätte das Rennen gemacht. Meine Frau und ich – wir wohnten damals im Tessin - freuten uns sehr, wieder in die Umgebung von Zürich zurück zu kehren und schmiedeten schon Pläne, wo wir wohnen wollten.
Dann kam der erste Hammer in Form eines erneuten Telefongespräches. Diesmal war Helen Kaspar am Draht. Die designierte Präsidentin der Betriebskommission lud mich zu einer ersten Besichtigung des Bellevues ein und vereinbarte mit mir einen Treffpunkt am Bahnhof St. Gallen.
Erstes Stutzen!
Wir würden dann gemeinsam mit dem Auto ins Rheintal fahren.
Rheintal?
Alarmiert und zu tiefst verunsichert breiteten wir auf dem Küchentisch die Schweiz-Landkarte aus und suchten nach dem Altstätten mit "ä", das wir während der ganzen Dauer des Bewerbungsprozesses mit dem Altstetten mit „e“ verwechselt hatten.
Beschämend für mich, reichten doch meine Geografie Kenntnisse nur bis zu den Hügeln des Appenzeller Landes, meinte ich doch wirklich, dort würde die Schweiz enden. Ich wurde Dank dem Bellevue eines besseren belehrt.
Der zweite Hammer folgte wenige Wochen später und nachdem wir uns mit dem Altstätte mit „ä“ versöhnt hatten.
Auf der Titelseite eines Wochenmagazins das ich regelmässig zu lesen pflegte, prangte in fetten Lettern der Titel:
Der Kinderknastkanton!
Darunter, gross aufgemacht, ein Foto, das ein Mädchen zeigte, welches mit einer Pistole auf einen biederen, grau gekleideten Mann mit Filzhut zielte. Nach der Lektüre des langen Artikels, wusste ich, dass der biedere grau gekleidete Mann mit Filzhut mich meinte, ein biederer grau gekleideter Knastdirektor mit Filzhut, der in wenigen Monaten junge unschuldige Mädchen in gläserne Käfige sperren würde und das alles mit dem Segen der St. Galler Behörden und mit dem Segen des Bundes!
In gewissen Kreisen wollte man partout nicht akzeptieren, dass sich der Kanton St. Gallen bereit erklärt hatte, nebst dem Platanenhof, der damals wegen seiner geschlossenen Abteilung stark unter Beschuss war, nun auch noch für eine ANE für junge Frauen Hand zu bieten. Wieder war ich zutiefst verunsichert und wieder zweifelte ich, ob ich die Stelle im Altstätten mit „ä“, wirklich antreten wollte.
Eine starke mutige und Zuversicht ausstrahlende Präsidentin und eine starke und mutige Betriebskommission halfen mir, meine Zweifel ein wenig kleiner zu machen, allerdings ahnend, dass in den nächsten Jahren noch einiges an medialen Turbulenzen auf uns zukommen wird. Was denn auch tatsächlich eintraf. Denn fast täglich erschien während der Aufbauphase des Bellevues irgendwo im Lande Schweiz Artikel in Zeitungen, Beiträge in Radio und Fernsehen, die oft viel Unwahres und wenig Wahres zum Inhalt hatten.
Kurz um! Am 01. Februar 1984 begann ich mit meiner Arbeit im Bellevue, diesem grossen, mächtigen schönen Haus, in dem wir hier heute versammelt sind. Allerdings fehlte es noch an allem. Nicht einmal ein Telefon stand mir zur Verfügung, und das in einem Smartphone-Zeitalter, das noch gar nicht geboren war!
Der Not gehorchend entschied ich mich, bei den Stelleninseraten die Nummer der Telefonkabine beim nahen Bahnhof anzugeben mit dem Vermerk:
Telefonische Auskunft erteilt der Heimleiter am Di, Do, und Fr, von 10 bis 12 Uhr unter folgender Telefonnummer!
Da stand ich dann jeweils zwei Stunden fröstelnd im Freien und wartete auf das Klingeln. Trotz oder vielleicht deswegen? ist es in kurzer Zeit gelungen, eine engagierte und kompetente Mitarbeiterschaft zusammenzustellen die mir bei der nicht leichten Geburt der Jugendstätte Bellevues tatkräftig zur Seite stand.
„Am 01. Mai ischt denn Eröffnig! So sprach eine selbstbewusste und Zuversicht verströmende Präsidentin in breitem Berndeutsch an der 1. Sitzung der Betriebskommission in ihrem Büro in St. Gallen.
Keine Widerrede!
Ich hatte also 90 Tage Zeit:
· ein taugliches Konzept für das offene und das geschlossene Bellevue aus dem Boden zu
stampfen
· Mit Architekten, Bauprofis, Handwerkern, Subventionsgebern, usw. die ANE zu planen
· Personal für alle Chargen zu finden,
· eine Telefonleitung legen zu lassen,
· die Finanzen zu erfinden (denn Geld war noch keines vorhanden),
· Büros anzulegen,
· Werbematerial drucken zu lassen,
· verschiedene Pressekonferenzen zu organisieren,
· An epischen Podiumsdiskussionen teilzunehmen,
· Alle politischen Parteien empfangen und Überzeugungsarbeit leisten,
· Werkstätten einzurichten,
· Inventar zu machen,
· meinen Kolleginnen in der ganzen Schweiz Besuche abzustatten,
· einen von Frau Kaspar verordneten Schnellkurs in Hauswirtschaft bei Diakonissin Schwester
Erika im Hirslanden In Zürich über mich ergehen zu lassen
und nicht zuletzt dafür zu sorgen, dass alle Madonnenstatuen, Heiligenbilder, Jesuskreuze und Papst Portraits, die das grosse Haus noch bevölkerten, am Eröffnungstag verschwunden waren. Das tat ich in täglich homöopathischen Dosen, mit dem mir vom benachbarten Kloster ausgeliehen kleinen Leiterwagen, denn es war mir ein Anliegen, die Würde der Nonnen, die hier in diesem Hause über viele Jahrzehnte tätig waren, nicht zu verletzen. Das grosse Portrait von Johannes Paul dem II im Eingang, liess ich allerdings solange dort hängen, bis der Schweiz Besuch des Papstes, im Juni 1984, vorüber war. Man wusste ja nie, ob er vielleicht doch noch von Vaduz kommend, einen Abstecher nach Altstätten machen würde! Nach seiner Abreise nach Rom kam auch Dieses Bild ins Kloster!
Die Punktlandung war perfekt. Am 01. Mai 1984 betrat das erste Mädchen das Bellevue. Andrea, so hiess es, und es durfte zur Feier des Tages draussen vor dem Eingang einen Baum pflanzen. Und so wie der Baum mit der Zeit gewachsen ist, so sind auch die vielen jungen Frauen, die hier vorübergehend Heimat gefunden haben, an sich gewachsen, erwachsen geworden, begleitet von den vielen guten Erfahrungen die sie hier im Bellevue machen durften.
Ich habe das Bellevue in den vergangenen 30 Jahren ganz selten besucht. Nicht, weil es mich nicht interessierte, was für eine Entwicklung das Heim gemacht hat, sondern ganz einfach aus Zeitgründen und weil das Rheintal nicht gerade am Wege liegt. Die wenigen Male aber, die ich hier zu Besuch weilte, haben mich immer erstaunen lassen, wie kreativ, vielfältig und innovativ in diesem Hause gearbeitet und gelebt wird. Diese Kreativität und Vielfalt begegnet einem in allen Räumen.
Ein „Designerheim“ eben, in welchem einem die Wertschätzung und die Annehmende Haltung den Jugendlichen gegenüber auf Schritt und Tritt begegnet. Man nehme nur den „Spazierhof“, draussen vor dem Hause als Beispiel. Hier wurden die Interessen und die Bedürfnisse der Jugendlichen in den Mittelpunkt gestellt, konsequent und schön!
Während meiner beruflichen Tätigkeit als Heimleiter wurde ich immer wieder mit der Frage konfrontiert, was der Unterschied sei zwischen der Arbeit mit Burschen und der Arbeit mit Mädchen. Und steigernd, was wohl schwieriger sei!
Ein Genderthema!
In der Beantwortung dieser heiklen Frage halfen mir Google und Wikipedia nicht weiter. Da musste ich schon auf meine eigenen Erfahrungen zurückgreifen, die ich im Bellevue und im Jugendheim Schenkung Dapples in Zürich gemacht habe. Erfahrungen, die den Unterschied zwischen der Sozialpädagogik in männlichen und weiblichen Institutionen nicht deutlicher zeichnen könnten. Nämlich die da sind:
· Männliche Jugendliche belästigen den Postboten nicht!
· Männliche Jugendliche meiden – so es geht – das Büro des Heimleiters konsequent!
· Männliche Jugendliche besuchen den Gottesdienst am Sonntag aus freien Stücken praktisch
nie!
· Männliche Jugendliche interessiert es nicht, wer zu Besuch ins Heim kommt. Sie ignorieren
ihn!
· Männliche Jugendliche werden nicht schwanger!
Und junge Frauen?
· Sie stürzten sich auf den Postboten, sobald er vorne an der Hauptstraße ins Bellevue abbog. Sie Nuschelten ungefragt in seinem Postsack auf der Suche nach Liebesbriefen, die dann aber meisten ausblieben, weil – wie sie ahnen - Burschen kaum Liebesbriefe schreiben. Das wiederholte sich einige Wochen, bis ich vom Pöstler freundlich aber bestimmt dazu aufgefordert wurde, oben im Stätdli ein Postfach zu mieten und die Post gefälligst selber dort abzuholen. So geschah es, dass der Heimleiter frühmorgens auf dem Weg zum Arbeitsplatz bei der Post vorbei ging, das Postfach leeren.
· Es kam selten vor, dass ich in meinem Büro ganz für mich alleine meiner Arbeit nachgehen konnte. Meistens sass mir am Schreibtisch oder auch am Boden ein schluchzendes Mädchen gegenüber. Entweder hatte es sich in den Werkstattleiter verliebt und konnte deswegen nicht arbeiten, oder es wurde von anderen Mädchen gemobbt, weil es am morgen die Fingernägel violett bemalt hatte. Oder der Freund, den es vor wenigen Tagen kennengelernt hatte, wollte nichts mehr von ihm wissen und, und und... Ich erinnere mich noch gut an Petra, die, nach einem halben Schnuppertag, im örtlichen Blumengeschäft, bereits wieder entlassen wurde, weil sie einem Kunden, der für seine Frau „nur“ drei Rosen kaufte, den noch nicht bezahlten Rosenstrauss um die Ohren schlug mit der Bemerkung, er solle sich schämen, die Ehefrau hätte wohl besseres verdient. Nun sass sie da in meinem Büro und verstand die Welt nicht mehr.
· Es begab sich eines Sonntags, mitten im Winter, dass ich dem ANE-Team eine Verschnaufpause gönnen wollte und deshalb für sie den Dienst in der geschlossenen Abteilung für einen Tag übernahm. Es waren fünf Mädchen anwesend, mit denen ich gemütlich frühstückte. Plötzlich fragte mich ein Mädchen aus der Gruppe, ob sie nicht auch das Recht hätten auf den Kirchgang am Sonntag. Sie liess nicht locker, redete von Religionsfreiheit und vom Recht auf Ausübung der religiösen Gesinnung. Irgendwann muss ich resigniert haben, und ich versprach ihnen den Besuch des Gottesdienstes um 10.00 Uhr in der Katholischen Kirche in Altstätten. Bedingung aber war, dass wir gemeinsam hingehen und gemeinsam wieder zurückkommen.
Versprochen!
Sofort scharten sich die Jugendlichen vor ihre Spiegel im Zimmer, machten sich hübsch und kleideten sich auf ihre Art sonntäglich. Beim verlassen der ANE viel mir auf, dass alle – trotz Schnee und Eisglätte - ziemlich hohe Stöckelschuhe trugen. Draussen war es bitterkalt! In der Kirche setzten sie sich alle brav in die hinterste Reihe. Ich eine Reihe davor. Als das Amen gesprochen war, und die Gottesdienstgemeinde sich erhoben hatte, bemerkte ich mit grossem Schrecken, dass die hintere Reihe leer war. Alle fünf Jugendlichen hatten sich aus dem Staub gemacht. Wie peinlich! Was folgte waren Telefonate mit Versorgern, Beichten bei meinen Vorgesetzten und hilflose Erklärungsversuche da und dort. Man stelle sich so eine Geschichte heute, im Zeitalter des „Carlos“ vor! Was für ein Geschrei und was für fette Titeln in den Medien! Nach wenigen Tagen allerdings, waren die 5 Kirchgängerinnen wieder da und der Alltag nahm seinen gewohnten Fortgang! Ich aber war um eine Erfahrung reicher geworden!
· Und wenn Besuch kam, und das war in den Gründerjahren oft der Fall, dann hatten die Mädchen plötzlich am Haupteingang wichtiges zu tun. Der Gast wurde nach seinem Namen, nach seiner Funktionen und nach den Gründen seines Besuches abgefragt. Den einen Gästen (meistens Männern) war es oft peinlich, andere wiederum (meistens Frauen) amüsierten sich und wieder andere (meistens Politiker) versuchten sich mit geplantem Ignorieren aus der Affäre zu stehlen.
· Und dass mintunter auch mal eine Schwangerschaft ins Haus flatterte, muss ja wohl nicht speziell erwähnt werden. Mein erstes schwangeres Mädchen hiess Monika und stammte aus dem Berner Oberland. Bei der Nachricht der Schwangerschaft geriet die ganze Mädchengruppe aus dem Häuschen. Keines wollte mehr arbeiten gehen. Denn schliesslich musste man jetzt Monika beistehen! Doch meine (typisch männliche) Sorge war eine andere: Wie sag ich es dem Jugendgerichtspräsidenten im Berner Oberland? Ich erinnere mich noch gut, wie ich eines Tages all meinen Mut zusammenkratze, mit feuchter Hand den Telefonhörer abhob und Herrn Ällig in Spiez anrief. Doch Dieser war hocherfreut, als wäre er der Grossvater, hiess mich, Monika Grüsse und gute Wünsche auszurichten und kündigte gleich seinen Besuch an, mit entsprechendem Geschenk, versteht sich. Ja, das waren noch Versorger! Ich war perplex und erleichtert!
Ja meine Damen und Herren
Ich nehme an, dass sich in den letzten 30 Jahren ähnliches und vieles mehr im Bellevue zugetragen hat. Ich denke, man könnte ein Bücherregal damit füllen.
Doch lassen Sie mich zum Schluss noch ein ganz persönliches Wort an zwei Menschen richten, die es besonders verdient haben, heute erwähnt zu werden. Die Eine, weil sie das Bellevue in den letzten 27 Jahren massgebend geformt, gestaltet und geprägt hat. Und die Andere, weil sie in den kommenden Jahren das Bellevue massgebend formen, gestalten und prägen wird.
Du Monika Nagl, hast zusammen mit der Betriebskommission und den Mitarbeitenden, das Bellevue zu dem gemacht was es heute ist und was wahrscheinlich – ich bin mir sogar sicher - ein Mann wohl niemals zu Stande gebracht hätte. Ein Ort der Augenweide! Ein Ort, wo man sich wohl fühlt. Ein Ort, wo junge Frauen mit sehr belasteten Biografien Ressourcen tanken können für die Zukunft, einer Zukunft, die weiss Gott noch vieles an Herausforderungen für sie bereit hält. Du hast mit dem Bellevue Masstäbe gesetzt, die weit über das St. Galler Rheintal hinaus Anerkennung gefunden haben. Dafür gebührt Dir Dank!
Und Du Uta Arand darfst heute mit uns allen den 30. Geburtstag des Bellevues feiern. Deine ersten Schritte als Leiterin der Jugendstätte Bellevue hast Du bereits erfolgreich hinter Dir. Du hast eine verantwortungsvolle Aufgabe übernommen, eine Aufgabe die schön und spannend, aber auch belastend und stressig sein kann. Doch heute, zur Feier des Tages wünsche ich Dir nur das Beste. Nämlich, dass Du in Deiner Arbeit viele humorvolle, schräge, witzige und heitere Geschichten sammeln kannst, Geschichten die Dir helfen, Deine Aufgabe mit der nötigen Gelassenheit anzupacken.
Ich danke ihnen!