Runder Tisch: Kalter Verwaltungsakt?!
Tatsächlich scheint der Wille zu keimen, ein dunkles Kapitel schweizerischer Sozialgeschichte aufzuarbeiten. Lange genug wurde geschwiegen, abgewiegelt, verdrängt und verharmlost. Dank der Hartnäckigkeit einiger Opfer und Opferorganisationen und dank der Arbeit couragierter Historikerkreise und Kulturschaffender ist das Thema der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen des letzten Jahrhunderts endlich an die Oberfläche geschwemmt worden. Am 11. April 2013 entschuldigte sich Bundesrätin Sommaruga vor zahlreichen Opfern «im Namen der Landesregierung » für das Unrecht, das ihnen geschehen ist. Sie kündigte die Schaffung eines runden Tisches an und ernannte hierfür einen Delegierten. Der runde Tisch nahm seine Arbeit im Juni 2013 auf, aber nicht mehr «im Namen der Landesregierung», sondern einzig im Auftrag der Departementschefin. Man wolle dem runden Tisch «kein Diktat von oben» verpassen, so die Begründung. Ich hätte es sehr begrüsst und habe dies auch öffentlich kommuniziert, wenn der runde Tisch durch ein Mandat des Gesamtbundesrates, wenn nicht gar von der Vereinigten Bundesversammlung politisch legitimiert worden wäre. Mein Fazit? Ein runder Tisch, der mehr und mehr einer Verwaltungseinheit des Bundesamtes für Justiz (BJ) gleicht. Dies umso mehr, als nach dem frühen Rücktritt des ersten Delegierten nun an seiner Stelle der Stellvertretende Direktor des BJ wirkt, der von der Funktion her eigentlich der «Koalition der Verantwortlichen» zugerechnet werden müsste. Ich hätte mir eine unabhängigere Persönlichkeit als Delegierten gewünscht. Eine Persönlichkeit, die über die Grenzen der unterschiedlichen Haltungen hinaus der schwierigen Arbeit der Aufarbeitung ein Gesicht gegeben hätte. Denn es geht nicht nur ums Feilschen um Geld und juristische Absicherung. Es geht auch um die Suche nach dem Warum? Eine ehrliche Antwort kann nur geben, wer hinhört, wer bereit ist, den traurigen Geschichten vieler noch lebender Verding- und Heimkinder Raum und Sprache zu geben, und wer den Mut aufbringt, die Hand auszustrecken
und denen Hilfe zu leisten, die Hilfe dringend nötig haben. Denn vergessen wir nicht, viele Heim- und Verdingkinder leben immer noch traumatisiert und in prekären finanziellen Verhältnissen. Doch leider hat es der runde Tisch verpasst, ein Fenster (Hearing) für die Opfer zu öffnen, wo sie face to face mit der «Koalition der Verantwortlichen» ihre Leidensgeschichten hätten erzählen und deponieren können. Ich fürchte, der runde Tisch verkommt mehr und mehr zu einem kalten Verwaltungsakt, ohne Tiefgang, ohne Ausstrahlung. Ein runder Tisch also, an welchem keine Emotionen und keine Trauer Platz finden.
Es wäre schade, ich bekäme Recht!
Ganzer Artikel mit Beitrag von Luzius Mader...