Saisoneröffnung Freilichtmuseum Ballenberg, Vernissage zum Auftakt der Sonderausstellung „Enfances volles – Verdingkinder reden“!

12.04.2014 14:00

Sehr geehrte Damenund Herren

Liebe Freunde

Dem Verein geraubte Kindheit, Träger dieser Wanderausstellung und insbesondere Dir, Jacqueline Häusler Häusler und Dir Basil Rogger ein herzliches Dankeschön, dass ich als Betroffener Gelegenheit bekomme, an dieser Vernissage sprechen zu dürfen.

Enfances volées - Verdingkinder reden - geraubte Kindheit! Was für eine deutliche, ehrliche Botschaft! 

Es war im Jahre 2008, als ich das erste Mal mit der Wanderausstellung "Verdingkinder reden" in Berührung kam. Ich war damals Präsident von Integras, dem Fachverband Sozial- und Sonderpädagogik, und wir besprachen an einer Sitzung mit den Macherinnen der Ausstellung die Möglichkeit einer Zusammenarbeit, im Hinblick auf den Start der Wanderausstellung 2009 in Bern. Ich, der wie tausende andere Verding- und Heimkinder mein Heimleben über Jahrzehnte im Verborgenen hielt, aus Scham und verinnerlichter Schuldzuschreibung, aus Angst vor erneuter Stigmatisierung, sah mich plötzlich in Gesellschaft engagierter Menschen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, ein dunkles und von der Gesellschaft lange Jahre verdrängtes Kapitel Schweizerischer Sozialgeschichte zu erhellen und aufzuarbeiten. Ich, der geglaubt hatte, mit meiner traurigen Geschichte allein zu sein, unverstanden, wurde plötzlich Zeuge von berührender Solidarität von nicht direkt Betroffenen, aber engagierten Menschen, die sich mit unseren Schicksalen, unseren Geschichten als Heim- und Verdingkinder verbündeten. Das war neu! Das war befreiend, das war Glück! 

Das Wissen und die Erkenntnis, dass dank Historikerinnen und Historikern, Kulturschaffenden und mutigen Opfern von "fürsorgerischen Zwangsmassnahmen" die Thematik der skandalösen und menschenverachtenden Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Heimen, Kliniken, Gefängnissen und bei Bauern immer breiter und tiefer in den öffentlichen Diskurs einzudringen begann, gab mir die Kraft und den Mut, mit der mir selbstauferlegten Tabuisierung meiner Erfahrungen als Kind und Jugendlicher zu brechen und mit meinem "Heimleben" an die Öffentlichkeit zu treten. Ich tat dies am letzten Tag meines Berufslebens und im Rahmen einer Tagung zum Thema "60 Jahre Heimerziehung, ein Blick zurück in die Zukunft und ein Abschied". Diesen meinen Schritt, nach Jahrzehnten des Schweigens, verdanke ich in grossem Masse der Wanderausstellung "Verdingkinder reden". Sie hat mir den Mut geschenkt, den ich brauchte, um meine Geschichte öffentlich zu erzählen. Und ich bin sicher, dass nicht nur ich, sondern viele Verding- und Heimkinder und weitere Opfer "fürsorgerischer Zwangsmassnahmen", welche die Ausstellung landauf landab besucht haben, dank ihr ihre Sprache, ihre Identität und ihre Würde wieder zurückbekommen haben. Das ist befreiend und tut gut! Das zeigen doch eindrücklich die Aussagen von ehemaligen Verding- und Heimkindern, die, stellvertretend für uns alle, in der Ausstellung zu sehen und zu hören sind. Man sieht und hört Menschen, die endlich frei von Angst, frei von Scham und frei von Schuld von ihrer Kindheit und von ihrer belasteten Jugend erzählen und die ihre Gefühle und seelischen Schmerzen, die sie für lange Zeit unterdrückt hielten, endlich in Worte fassen können. Menschen, die auch anklagen, Menschen die weinen und Menschen die zornig sein dürfen ob dem Leid, das ihnen angetan wurde. Denn wer das nicht kann, der bleibt sich "lange Jahre fremd", wie das mein lieber Freund Roland Begert in seinem Buch mit dem entsprechenden Titel so treffend formuliert hat. 

So wie die Ausstellung hier im Ballenberg vorübergehend eine Heimat gefunden hat, so hat sie uns ehemaligen Heim- und Verdingkindern ein wenig von der Heimat zurückgegeben, die wir in unseren Kindheits- und Jugendjahren so schmerzlich vermissten. Ich erinnere mich noch gut an jenen Mann im Kernschulhaus in Zürich. Während ich fürs Tessiner Fernsehen ein Interview gab, polterte und stapfte er durch die Ausstellung, die Bilder und Fotografien laut kommentierend. Und auf die Vorhaltungen des Reporters, er möge doch draussen warten, bis das Interview im Kasten sei, protestierte er laut mit der Bemerkung: "Das ist meine Ausstellung! Das ist meine Stube, hier bin ich zu Hause". Wie Recht er doch hatte! Der Mann hat mir aus dem Herzen gesprochen.

Ein Dank dem Freilichtmuseum Ballenberg, dass es der Ausstellung "Verdingkinder reden" Gastrecht gewährt und sich damit mutig dazu bekennt, dass die bäuerliche Existenz des letzten Jahrhunderts auch ihre Schattenseiten hatte. Denn die meisten Verding- und Heimkinder kennen das Leben auf Feld und Hof aus eigener bitterer Erfahrung. Viele von ihnen wurden schamlos ausgenutzt, gedemütigt und zu schwerer Kinderarbeit gezwungen. Hier, inmitten all der schönen stattlichen Bauernhäuser aus allen Regionen der Schweiz, wird die Sonderausstellung "Verdingkinder reden" - so hoffe ich - die Besucher und Besucherinnen anregen zur Reflexion darüber, was geschehen ist, damals, und was niemals mehr geschehen darf, heute und morgen. 

Die Ausstellung "Verdingkinder reden" hat mich in den letzten Jahren treu begleitet und hie und da im wahrsten Sinne des Wortes auch beschäftigt. So durfte ich u.a. im Regionalfenster Zürich mit zwei Heimjugendlichen eine Hörstation zum Thema Partizipation gestalten. Eine eindrückliche und schöne Erfahrung, gerade auch deshalb, weil ich als Heimkind nie gefragt wurde, was ich mir wünsche und wie ich es haben möchte. Das Beispiel zeigt, wie die Ausstellung die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Praxis der Fremdplazierung von Kindern und Jugendlichen gekonnt miteinander verknüpft. Dieses Konzept von Damals - Heute und Morgen macht die Ausstellung glaubwürdig und lebendig. Sie ist mir deshalb sehr ans Herz gewachsen.

 

Meine Damen und Herren, liebe Freunde,

Ich erlaube mir hier in diesem Kreis einen ganz persönlichen Wunsch anzubringen:

Liebe Wanderausstellung, wandere weiter durch die Lande und raste zwischendurch dort, wo Du noch nicht Halt gemacht hast. Denn ich wünsche mir, dass deine Botschaft auch die hintersten Winkel unseres Landes erreicht, so dass alle Menschen sehen und hören, wie damals in Heimen und bei Bauern nicht immer alles zum Wohle des Kindes getan wurde. Und als Tessiner würde es mich natürlich besonders freuen, wenn ich Dich bei Gelegenheit in der Südschweiz besuchen dürfte, am liebsten natürlich im geschichtsträchtigen Castello Grande in Bellinzona. Ob mein Wunsch eines Tages wohl in Erfüllung gehen wird? Mein Herz würde jauchzen vor Freude!