Tagesanzeiger vom 16.08.2013

16.08.2013 15:00

 


Kein Geld für die Opfer der Fürsorgepolitik

Von Stefan Schürer, Bern. Aktualisiert um 06:36

Personen, die ohne Gerichtsurteil weggesperrt wurden, sollen gesetzlich rehabilitiert werden. Vom Bund erhalten sie jedoch keine Wiedergutmachung. Den Verdingkindern könnte es gleich gehen.

 

Ihr Schicksal gehört zu den dunkeln Kapiteln der Schweizer Justizgeschichte. Ohne eine Straftat begangen zu haben, wurden sogenannt administrativ Verwahrte in Gefängnissen weggesperrt. Für die Einweisung genügte ein Lebenswandel, der die Jugendlichen im Jargon der Behörden als «arbeitsscheu» oder «liederlich» erscheinen liess. Die Vormundschaftsbehörden hatten freie Hand. Die Betroffenen konnten sich nicht gerichtlich zur Wehr setzen. Erst 1981 nahm diese Praxis ein Ende.

Nun sollen die Betroffenen rehabilitiert werden. Das geplante «Bundesgesetz zur Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen», das die Rechtskommission des Nationalrats gestern behandelt hat, findet bis ins bürgerliche Lager hinein Zustimmung. Mit dem Gesetz wird das Unrecht, das den Betroffenen widerfahren ist, offiziell anerkannt.

Lanciert hat das Gesetz SP-Ständerat Paul Rechsteiner. Die breite Unterstützung möglich gemacht hat eine Konzession gegenüber der bürgerlichen Ratsmehrheit: Aus der Anerkennung des Unrechts folgt kein Anspruch auf finanzielle Wiedergutmachung. Damit setzt sich die Vorlage über eine zentrale Forderung der Betroffenen hinweg. Ursula Schneider Schüttel (SP) bedauert dies zwar. Eine weitergehende Lösung sei jedoch im Moment nicht mehrheitsfähig, sagt das Mitglied der Rechtskommission. Rechsteiner sieht dies gleich: «Für eine Entschädigung fehlt derzeit die politische Basis.»

«Nicht Sache des Bundes»

Brisant ist diese Weigerung, Gelder zu sprechen, mit Blick auf den sogenannten runden Tisch, den Bundesrätin Sommaruga im Sommer erstmals organisiert hat. Am runden Tisch verhandeln die Opfer fürsorgerischer Zwangsmass-nahmen mit Vertretern der öffentlichen Hand, der Landeskirchen sowie des Bauernverbands über eine umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit. Zu den Opfern der Zwangsmassnahmen gehören neben den administrativ Versorgten auch Verding- und Heimkinder, Zwangssterili sierte sowie Zwangsadoptierte. Eine zentrale Forderung der Vertreter der verschiedenen Opfergruppen ist die finanzielle Wiedergutmachung. Im Hinblick auf die nächste Sitzung vom 25. Oktober werden derzeit Modelle für finanzielle Leistungen ausgearbeitet. Vonseiten der Opfer wird vereinzelt mit einer Volksinitiative gedroht, sollten keine Gelder gesprochen werden.

Das Signal, welches das Parlament mit dem Rehabilitierungs-Gesetz an den runden Tisch aussendet, verheisst für die Betroffenen nichts Gutes. Mit dem Verzicht auf Wiedergutmachung solle ein Präzedenzfall für weitere Opfergruppen verhindert werden, die Anlass zu Schadenersatzforderungen haben könnten, schreibt die Rechtskommission.

In der Sprachregelung des Justizdepartements (EJPD) sind das Rehabilitierungs-Gesetz und die Verhandlungen am runden Tisch voneinander unabhängig. Gleichzeitig ist auch dem EJPD bewusst, dass der Bundesrat eine Beteiligung des Bundes an Entschädigungszahlungen nicht in Eigenregie am runden Tisch beschliessen kann. Nötig wäre ein Beschluss des Parlaments. Dort herrscht jedoch grosse Skepsis. «Die Kantone waren zuständig für die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Es ist deshalb nicht Sache des Bundes, finanzielle Wiedergutmachung zu leisten», sagt etwa Andrea Caroni (FDP).

Stigma «Häftling»

Dass die beiden Prozesse zur Aufarbeitung der Fürsorgepraxis parallel laufen, war ursprünglich nicht geplant. Weder die Politik noch die Betroffenen wollen aber das Rehabilitierungs-Gesetz zurückstellen, um die Ergebnisse des runden Tisches abzuwarten. «Wir kämpfen seit Jahren für eine Rehabilitierung», sagt Ursula Müller-Biondi. Sie wurde mit 17 Jahren in die Strafanstalt Hindelbank eingewiesen, nachdem sie unehelich schwanger geworden war. Das Stigma «Häftling» verfolgt sie ihr Leben lang. Für die heute 63-Jährige steht daher fest: «Der runde Tisch darf die Rehabilitierung nicht aufhalten.»

Für Thomas Huonker braucht es angesichts der schwierigen Ausgangslage am runden Tisch pragmatische Lösungsansätze. Huonker nimmt als Vertreter der ehemaligen Heimkinder an den Verhandlungen teil. Zudem beschäftigt er sich als Historiker mit der Thematik. Denkbar sei, dass der Bund primär die Kosten für die wissenschaftliche Aufarbeitung übernehme. Für die Entschädigungszahlungen könnten dagegen Kantone, Gemeinden, Kirchen und der Bauernverband mehrheitlich aufkommen. Diese Institutionen seien heute verantwortlich für das Verhalten jener Kreise, welche die Zwangsmassnahmen selbst verfügt oder davon profitiert hätten. Was die Finanzierung der Entschädigung anbelangt, reichen Huonkers Vorschläge vom Verkauf von Goldmünzen bis zu Mitteln aus den kantonalen Lotteriefonds.

Als das Parlament zahlte

Mit der Entschädigung der Opfer der Fürsorgepolitik haben sich die Räte bereits früher schwer getan. Im Jahr 2004 verweigerten sie Zahlungen an die Opfer von Zwangssterilisationen. Bürgerliche Exponenten argumentierten damals, es gehe nicht an, aufgrund heutiger Massstäbe und Erkenntnisse über Vorfälle zu urteilen, die sich «in einer ganz anderen Zeit und unter ganz anderen Umständen» ereignet hätten.

Wiedergutmachung erhielten hingegen die Opfer des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse». Mit Unterstützung der Behörden hatte das «Hilfswerk» der Pro Juventute über Jahrzehnte Fahrenden ihre Kinder entrissen und fremdplatziert. Das Parlament sprach zwischen 1988 und 1992 elf Millionen Franken als Entschädigung. Bei den «Kindern der Landstrasse», sagt Daniel Vischer (Grüne), sei bis ins bürgerliche Lager ein Konsens vorhanden gewesen, dass der Bund etwas für die Opfer tun müsse. «Von dieser Haltung ist heute nicht mehr viel übrig.»(Tages-Anzeiger)