KINDESWOHL: Beitrag zum Themenheft 2017 der Stiftung Hirslanden
Kindeswohl
Ich sitze auf dem Podium mit weiteren Fachleuten aus der Branche und referiere vor zahlreichem Publikum über die heikle Praxis der Kindswegnahmen. Wir reden von Kindern und Jugendlichen die fremdplatziert werden müssen, weil das Kindeswohl verletzt wurde. Ich erzähle von traurigen Schicksalen, von Misshandlungen, von Gewalt- und Lieblosigkeiten, denen Kinder und Jugendliche schutzlos ausgesetzt sind. Von Erwachsenen, die sich zu wenig um ihren Nachwuchs kümmern und von Behörden die gezwungen werden, einzuschreiten - des Kindeswohls wegen.
Und während wir all die heiklen Aspekte einer Frendplatzierung gegeneinander abwägen und ausleuchten, steht plötzlich ein älterer Herr auf, räuspert sich und fragt geradeheraus ins Publikum und zu uns aufs Podium, was denn unter dem Kindeswohl zu verstehen sei. Er sei damals, in seinen noch jungen Jahren, zu Bauern verdingt worden, hätte strenge Arbeit verrichten müssen, habe Lieblosgkeit erfahren und trage noch heute Spuren dieser seelischen Verletzungen in sich. Sein Vormund hätte damals auch mit dem Kindesdwohl argumentiert und so die erzwungene Trennung von Vater und Mutter damit begründet.
Mit dem Kindeswohl hatte auch die Pro Juventute aurgumentiert, als sie tausende von Kindern ihren fahrenden Eltern wegnahm und in Heime steckte. Die Sesshaften fühlten sich im Recht – dem Kindeswohl verpflichtet - und handelten dennoch falsch.
So ist es: Alle sprechen vom Kindeswohl, doch eine klare Definition fehlt und nicht jeder das Gleiche darunter versteht.
Das Lexikon definiert es so:
“Mit Kindeswohl wird ein Rechtsgut aus dem Deutschen Familienrecht bezeichnet, welches das gesamte Wohlergehen eines Kindes oder Jugendlichen sowie seine gesunde Entwicklung umfasst“.
Ich versuche dieses gesamte Wohlergehen eines Kindes, wie es das Familienrecht umschreibt, in einem Bild, einer Momentaufnahme, festzuhalten:
Ich beobachte von meinem Balkon aus, wie ein Vater mit seiner 3-Jährigen Tochter einer kleinen Strasse entlang spazieren. Nach wenigen Schritten beugt sich das Kind vor, hebt Kieselsteine auf, sortiert sie nach Gutdünken, zeigt sie seinem Vater und reiht sie danach wieder auf den Boden. Der Vater bleibt geduldig stehen. Nach weiteren vier Schritten entdeckt das Kind einen Schmetterling. Es will ihn fangen, was ihm aber nicht gelingt. Der Vater tröstet es. Dann, zur rechten des Pfades, eine leuchtende Blume im Gras. Das Kind kniet nieder, hält die Blume zart in seinen kleinen Händen, schnuppert daran, lange und intensiv. Der Vater wartet geduldig bis das Kind sich wieder erhebt und weitere Schritte nach vorne macht. Dann tänzelt eine junge schwarze Katze des Weges. Das Kind hebt das Tier sanft auf, streichelt es. Lange bleiben Kind und Katze eng umschlungen am Wegrand stehen. Die Geduld des Vaters scheint grenzenlos zu sein. Nach etwa 70 Metern und einer gefühlten Stunde entschwinden Vater und Tochter langsam aus meinem Blickfeld. Ich bin gerührt.
Kindeswohl im Mikrokosmos des Alltages!