Ticino, dove sei?

05.11.2014 15:58
 
Dank einer neuen Legiferierung, wurde 1981 die in der helvetischen Gesellschaft breit abgestützte und über Jahrzehnte tolerierte Praxis der unmenschlichen Zwangsplatzierung von Kindern und Jugendlichen zu Bauern, in Heimen und Anstalten, in Psychiatrischen Kliniken und Gefängnissen endlich gestoppt. Das Ausmass des selbstherrlichen Machtmissbrauchs von Beamten, Pfarrherren und selbsternannten Moralisten auf dem Buckel tausender von Kindern und Jugendlichen hat tiefe Spuren der Trauer und der Verletzung bei diesen Menschen hinterlassen. Wären nicht Opfer und Betroffene gewesen, die mutig und beherzt mit ihren traurigen Geschichten an die Öffentlichkeit gelangten, man würde - so fürchte ich - noch heute schweigen. 
 
Erfreulich also, dass nun auch die Landesregierung aktiv geworden ist. Mit bundestätlichem Beschluss vom 05. November 2014 hat sie eine Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgungen ins Leben gerufen. BRAVO! 
 
Allerdings muss ich auf einen unschönen Schönheitsfehler aufmerksam machen. Warum, lieber Bundesrat, hat die Südschweiz in dieser Kommission keinen Sitz? Macht die historische Wissenschaft am Gotthard halt? Wurden im Tessin im letzten Jahrhundert keine fürsorgerischen Zwangsmassnahmen verordnet, oder hast Du das Tessin ganz einfach vergessen? Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass Dank den Medien, Dank vieler Sozialschaffender, Dank auch der historischen Wissenschaft und Dank engagierter Bürgerinnen und Bürger, das Tessin sich langsam, langsam auf den Weg macht, seine Verantwortung in dieser Sache wahrzunehmen. Schon bedauerlich, dass der Runde Tisch „Tessinlos“ war. Machen wir also nicht noch einmal den Fehler und grenzen eine Region der Schweiz einfach aus, indem wir sie ignorieren. Denn die Aufarbeitung dieser leidigen Geschichte ist eine nationale Aufgabe. Und da gehören alle Sprachregionen dazu. 
 
Deshalb erwarte ich vom Bundesrat, dass er die Zusammensetzung der Kommission nochmals traktandiert und der Italienischen Schweiz einen Sitz zuteilt. Alles andere wäre beschämend und politisch sehr unklug.