VATERPHANTASIEN

05.06.2018 09:57

Wie der Bub, der seinen Vater nie kannte,  in seiner Not einen Vater in seiner Phantasie zusammenbastelte und so seine traumatischen  Erfahrungen von Scham und Schuld zu bewältigen versuchte.

Auszug aus meinem Buch "Heimweh", Spämpfli Verlag, Bern, 2017

 

...Hatte die Mutter in der Zeit in Pura mindestens hin und wieder leibhaftig vor mir gestanden, blieb mein Vater für mich zeitlebens vollkommen unsichtbar. Ich wusste nicht, wer er war und ob er überhaupt noch lebte. Ich empfand über meine Vaterlosigkeit tiefe Scham, und meine Sehnsucht nach ihm wuchs von Tag zu Tag. Also erschuf ich ihn mir in meiner Fantasie. Im Kindergarten und später in der Schule schaute ich mir die Väter meiner Kameraden genau an. Sie waren nicht so stark, nicht so schön, nicht so gross und nicht so liebevoll wie meiner. Sie konnten meinem Vatergeist nicht das Wasser reichen. Er begleitete mich auf allen meinen Wegen, redete mit mir, gab mir Ratschläge, tröstete mich in den dunkelsten Stunden. Abends stand er an meinem Bett und sagte mir gute Nacht. Wenn ich im Rebberg Ruten schneiden musste, stand er mir bei, in Hitze und strömendem Regen. Auch später, nachdem man mich von Pura nach Zizers verschoben hatte und ich vor Heimweh fast umkam, war er bei mir.

Jahre konnte ich nicht akzeptieren, dass die Heimleiter mein Schulzeugnis unterschrieben. Da gehörte der Name meines Vaters hin. Auch das Titelblatt des Zeugnisses irritierte mich: Dort, wo der Vatername hätte stehen müssen, klaffte eine Lücke. Kaum hatte ich lesen und schreiben gelernt, begann ich die Lücke zu füllen. Einmal trug ich Giovanni ein, einmal Alberto. Die Lehrerin und der Heimleiter schimpften, als sie es entdeckten, doch ich wollte sein wie meine Klassenkameraden, ich suchte die Normalität. Niemand erklärte mir, warum ausgerechnet ich keinen Vater haben sollte. Und so entstand mit den Jahren ein Riesentabu, das auch in mir wirksam wurde. Ein Kind, dem man keine Antworten gibt, wenn es etwas über die Umstände seiner Geburt erfahren will, glaubt, dass ein Makel an ihm haftet. Etwas Schmutziges, Böses. 

nach meiner Zeit im Heim erfand ich noch Namen, wenn für Dokumente nach dem Namen des Vaters gefragt wurde. Und das war oft der Fall. Im Tessin herrscht bis heute die Unsitte, dass auf wichtigen Papieren dessen Name zu stehen hat. Ist der Vater am Leben, steht «di» (von). Ist er gestorben, heisst es «fù» (gewesen). Irgendwann verlor ich den Überblick über die Namen, doch das war immer noch weniger schlimm, als enttarnt zu werden. Noch komplizierter wurde es, wenn ich mich in einer Gesellschaft vorzustellen hatte. Rasch tauchte jeweils die Frage nach dem Vater auf. Devecchi von wem und von wo? Von Arogno oder Castagnola? Hätte ich «di Edvige» – so heisst meine Mutter – gesagt, wäre meinem Gegenüber sofort klar gewesen, dass ich ein Unehelicher war. Sagte ich «di Mario», begann mein Gegenüber angestrengt zu überlegen und bohrte nach. Ich hasste die Ausfragerei. Die Vertuschung meiner Herkunft kostete mich über lange Jahre viel Kraft. 

Bis ins Erwachsenenalter glaubte ich fest daran, dass mein Vaterheld eines Tages vor mir stehen, mich an sich drücken und mich um Verzeihung bitten würde, dass er mich so viele Jahre aus seinem Leben verbannt hatte. Ich würde ihm um den Hals fallen und alles Schlechte wäre vergessen. Ich hätte einen Vater für den Rest meines Lebens. Als ich aus dem Heim entlassen wurde, lief ich durch die Strassen von Lugano und sah jedem Mann insesicht. Vielleicht war einer von ihnen mein Vater? Vielleicht würde ich ihn zufällig erkennen, weil wir uns doch bestimmt ähnlich sahen? Doch ich habe meinen Vater nie gesehen. Eine eigenartige Scheu hielt mich stets davon ab, Nachforschungen anzustellen. Wahrscheinlich aus Angst, auch von ihm zurückgewiesen zu werden. 

Jahre später, als ich selbst schon die ersten grauen Haare hatte, rief mich meine Mutter an. Ein kurzer Kontaktflash nach langer Funkstille. Heute sei mein Vater gestorben. Im 76. Lebensjahr. Er sei schwer krank gewesen. Mehr sagte sie nicht. Sie nannte nicht einmal seinen Namen, obwohl ich sie danach fragte. Die Todesnachricht löste keine grossen Gefühlsregungen in mir aus.