WARUM?

25.11.2013 18:39

Häufig sehe ich mich in den letzten Wochen und Monaten mit Erfahrungsberichten von ehemaligen Verding- und Heimkindern konfrontiert. Sie schreiben mir über ihre Erlebnisse in den Heimen oder bei Bauern, schildern mir sehr genau und detailliert ihre traurigen Kinderleben, als wollten sie sich befreien von einer Last, die sie ein Leben lang verschämt mit sich herumgetragen haben. Ja, ich selber habe in meiner Rede am Gedenkanlass die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen dazu aufgerufen und ermuntert, unsere Geschichten zu erzählen und öffentlich zu machen. Es ist nicht Wut, die sich in den Worten der Opfer spiegelt, es sind vielmehr Fragen nach dem WARUM? Denn bis heute haben sie, haben wir, noch keine gültigen und ehrlichen Antworten darüber bekommen, weshalb uns das angetan wurde. Stellvertretend für die vielen Mails und Briefe die mich erreicht haben, hier ein Auszug aus dem Schreiben eines Mannes, der fast sein ganzen Kinder- und Jugendleben in Heimen verbringen musste und der, als 45jähriger, zurück von einem Besuch bei seinen damaligen Heimeltern, auf das WARUM? noch immer keine Antwort bekommen hat:

 
"Warum hast Du, wendete ich mich an die Heimmutter, mich ins Kissen gedrückt,
wenn mein apathisches Kopfwiegen dich genervt hat, warum hast Du mir
Kartonröhren über die Arme gestülpt, wenn mein Neurodermitis mich so geplagt
hat, warum hast du mich ausgelacht, wenn ich mit einer Schuhschachtel voll
Habseligkeiten dem Dorfbach folgend nach Honolulu wollte, warum hast du mir
die drei Löffel Lebertran in die Suppe gekippt wenn ich mal zu spät am
Mittagstisch war, wo doch deine zwei verwöhnten Töchter feinsäuberliche Lebertran Kapsel
schluckten. Warum diese dauernden Schläge, dieses stundenlange im Ecken
stehen, den mehrmaligen Aufenthalt in der Dunkelkammer, dem feuchten dunklen
Loch, wo nur die Toilettenspülung zu hören war. Warum bekommt ein Kleinkind
so lange den gleichen Haferbrei oder rohes Sauerkraut vorgesetzt, bis es
Schimmel zeigt und zum Erbrechen zwingt. Warum schneidest du mir den
Furunkel an meinem Hintern, im Nähzimmer, nackt auf einem Schemel, vor
den Mädchen auf? Warum reisst du die Haare, so bei meiner kleinen Schwester,
solange bis ein Büschel in deiner Hand liegt und schmeisst sie anschliessend
die Treppe hinunter in den Korpus, so dass eine narbige Delle an ihrem Kopf
noch heute davon zeugt? Warum zerrst du mich aus dem Bett und schlägst
erbarmungslos auf meinen nackten Körper mit einem Teppichklopfer, dass ich
zittere und stöhne vor Schmerzen, nur weil vor dem Einschlafen noch ein Witz
die Runde machte? Warum verlangst du von mir, sechs junge Hunde von einem
grossen Wurf zu töten, bin ich doch erst 11 Jahre alt? Warum traktierst du
mich, auf mir kniend, mit deinem ganzen Gewicht, mit Fäusten und
Fingernägeln, nur weil ich im Sandkasten angeblich Doktor gespielt habe.
(Dieses besinnungslose Dreinschlagen habe ich übrigens auch auf der Beobachterseite erlebt, bei einem etwa gleichaltrigen Jungen.) Warum müssen wir auf den Knien Gott um
Verzeihung bitten, vor Allen versteht sich, weil wir den secondhand Kaugummi
in der Zuckerbüchse nachsüssten, vielleicht den Finger in die Butter
bohrten, oder gar eine Dörrbirne oder ein Stück Kandiszucker vom Estrich
stahlen? Warum hast Du mich an einem heissen Sommerabend, nach dem
Völkerball Spiel, mit der grossen Gummidichtung der Waschmaschine, solange
verdroschen, bis ich das Bewusstsein verlor und erst in meinem Bett wieder
zu mir kam? (...) Noch trauriger, dass Mueti, wie wir die Heimmutter nannten, von
alledem nichts mehr wissen wollte bei meinem Besuch. Jedes Warum von mir
oder meiner Schwester mit einem "kann mich nicht mehr erinnern" quittiert
wurde!"
 
Ich wünschte mir, der Runde Tisch würde für die Opfer ein Fenster öffnen, eine Plattform schaffen (Hearing), wo diese traurigen Geschichten angehört, gesammelt und in einem "Protokoll des Schreckens" festgehalten würden. Denn ich bin überzeugt, dass das Erzählen und Weitergeben viele Opfer entlastet und befreit. Und: Je mehr an Geschichten rund um die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen an die Oberfläche geschwemmt werden, desto weniger gelingt es der Gesellschaft, die Augen davor zu verschliessen und sich vor der Verantwortung zu drücken.