Was bringt der Runde Tisch?: Ein Fazit aus zwei Perspektiven!

03.03.2014 16:32

Artikel erschienen im Sozial Aktuell vom März 2014

Am 11. April 2013 bat Bundesrätin Simonetta Sommaruga bei einem Gedenkanlass in Bern ehemalige Verding- und Heimkinder, administrativ Versorgte, Zwangssterilisierte und andere Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen im Namen der Landesregierung um Entschuldigung. Gleichzeitig rief sie den runden Tisch ins Leben. Dieser soll ein Gremiumsein zu einer umfassenden Aufarbeitung von Leid und Unrecht im Zusammenhang mit den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Neben Betroffenen und dem Bund sind am runden Tisch die Kantone, Städte, Gemeinden, Institutionen, Organisationen, Kirchen und die Wissenschaft vertreten. Die Einladung nicht angenommen hat Sergio Devecchi, ehemaliges Heimkind und ehemaliger Heimleiter. Er steht dem runden Tisch in seiner aktuellen Form kritisch gegenüber.

Nach den ersten Sitzungen ziehen Devecchi und Luzius Mader, als Delegierter für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen Leiter des runden Tisches, ganz unterschiedliche Zwischenfazite.

 

Der Start ist gelungen: Von Luzius Mader

Im April 2013 hat in Bern ein Gedenkanlass für Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen stattgefunden, an dem die Vorsteherin des EJPD sich im Namen des Bundesrates bei den Betroffenen für das geschehene Unrecht entschuldigt hat. Sie hat damals in Aussicht gestellt, dass dieser Anlass nicht der Schlusspunkt, sondern der Startschuss für eine umfassende Aufarbeitung dieses schwierigen Kapitels der Schweizer Geschichte sein soll. Nach den ersten drei Sitzungen des runden Tischs darf ich sagen, dass der Start zu dieser Aufarbeitung gelungen ist. Am runden Tisch sind einerseits Betroffene bzw. Betroffenenorganisationen und anderseits Behörden des Bundes, der Kantone, der Städte und Gemeinden sowie andere Organisationen (Kirchen, Heime, Bauernverband) paritätisch vertreten. In verhältnismässig kurzer Zeit ist ein Klima des gegenseitigen Respekts und Vertrauens gewachsen, und es ist gelungen, die verschiedenen Aufarbeitungsprozesse – etwa auf wissenschaftlicher, gesellschaftlich-politischer und finanzieller Ebene – anzustossen und voranzutreiben.

Das ist nicht selbstverständlich, denn das Thema ist und bleibt schwierig, und die Erwartungshaltungen sind unterschiedlich. Die direkt Beteiligten haben sich aber auf dieses gemeinsame Unternehmen eingelassen und bringen sich konstruktiv in die Diskussionen und Arbeiten am

runden Tisch ein. Dass der Start geglückt ist, ist sicher auch meinem Vorgängerals Delegierter des EJPD für den runden Tisch, alt Regierungsrat

Hansruedi Stadler, zu verdanken. Er hat sich mit grossem Engagement für die Anliegen der Betroffenen eingesetzt und hat dem runden Tisch viele Türen geöffnet, die sonst wohl verschlossen geblieben wären. In den kommenden Monaten wird uns die Schaffung einer finanziellen Soforthilfe auf freiwilliger Basis stark beschäftigen. Sie soll Betroffenen zugutekommen, die sich gegenwärtig in einer besonders prekären finanziellen Situation befinden. Weil hierfür keine vorgängige Schaffung einer Rechtsgrundlage erforderlich ist, sollte dies dem runden Tisch erlauben, schnell und flexibel zu reagieren. Wir hoffen, im Sommer 2014 erste Gesuche behandeln zu können, sodass es möglich sein sollte, im Herbst 2014 erste Auszahlungen vorzunehmen. Daneben wird der runde Tisch aber auch die anderen Aspekte der Aufarbeitung nicht vernachlässigen. So soll z. B. die wissenschaftliche Aufarbeitung dazu beitragen, Klarheit über die Vergangenheit zu schaffen und das Bewusstsein der heutigen Bevölkerung für die damaligen Vorkommnisse zu schärfen. Erklärtes Ziel ist es, den politischen Behörden im Sommer 2014 Massnahmenvorschläge für eine umfassende Aufarbeitung zu unterbreiten

 

Ein kalter Verwaltungsakt?!: von Sergio Devecchi

Tatsächlich scheint der Wille zu keimen, ein dunkles Kapitel schweizerischer Sozialgeschichte aufzuarbeiten. Lange genug wurde geschwiegen, abgewiegelt, verdrängt und verharmlost. Dank der Hartnäckigkeit einiger Opfer und Opferorganisationen und dank der Arbeit couragierter Historikerkreise und Kulturschaffender ist das Thema der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen des letzten Jahrhunderts endlich an die Oberfläche geschwemmt worden. Am 11. April 2013 entschuldigte sich Bundesrätin Sommaruga vor zahlreichen Opfern «im Namen der Landesregierung » für das Unrecht, das ihnen geschehen ist. Sie kündigte die Schaffung eines runden Tisches an und ernannte hierfür einen Delegierten. Der runde Tisch nahm seine Arbeit im Juni 2013 auf, aber nicht mehr «im Namen der Landesregierung», sondern einzig im Auftrag der Departementschefin. Man wolle dem runden Tisch «kein Diktat von oben» verpassen, so die Begründung. Ich hätte es sehr begrüsst und habe dies auch öffentlich kommuniziert, wenn der runde Tisch durch ein Mandat des Gesamtbundesrates, wenn nicht gar von der Vereinigten Bundesversammlung politisch legitimiert worden wäre. Mein Fazit? Ein runder Tisch, der mehr und mehr einer Verwaltungseinheit des Bundesamtes für Justiz (BJ) gleicht. Dies umso mehr, als nach dem frühen Rücktritt des ersten Delegierten nun an seiner Stelle der Stellvertretende Direktor des BJ wirkt, der von der Funktion her eigentlich der «Koalition der Verantwortlichen» zugerechnet werden müsste. Ich hätte mir eine unabhängigere Persönlichkeit als Delegierten gewünscht. Eine Persönlichkeit, die über die Grenzen der unterschiedlichen Haltungen hinaus der schwierigen Arbeit der Aufarbeitung ein Gesicht gegeben hätte. Denn es geht nicht nur ums Feilschen um Geld und juristische Absicherung. Es geht auch um die Suche nach dem Warum? Eine ehrliche Antwort kann nur geben, wer hinhört, wer bereit ist, den traurigen Geschichten vieler noch lebender Verding- und Heimkinder Raum und Sprache zu geben, und wer den Mut aufbringt, die Hand auszustrecken

und denen Hilfe zu leisten, die Hilfe dringend nötig haben. Denn vergessen wir nicht, viele Heim- und Verdingkinder leben immer noch traumatisiert und in prekären finanziellen Verhältnissen. Doch leider hat es der runde Tisch verpasst, ein Fenster (Hearing) für die Opfer zu öffnen, wo sie face to face mit der «Koalition der Verantwortlichen» ihre Leidensgeschichten hätten erzählen und deponieren können. Ich fürchte, der runde Tisch verkommt mehr und mehr zu einem kalten Verwaltungsakt, ohne Tiefgang, ohne Ausstrahlung. Ein runder Tisch also, an welchem keine Emotionen und keine Trauer Platz finden.

Es wäre schade, ich bekäme Recht!