WENN ES DIE KESB SCHON GEGEBEN HÄTTE, WÄRE MIR DAS NICHT PASSIERT
Interview, geführt von der Journalistin Susanne Wenger mit Sergio Devecchi, Autor des Buches
"HEIMWEH - VOM HEIMBUB ZUM HEIMLERITER"
Der ehemalige Heimbub und spätere Heimleiter Sergio Devecchi über Fremdplatzierungen von Kindern gestern und heute – und über mögliche Lehren aus einem dunklen Kapitel Schweizer Sozialgeschichte.
Sergio Devecchi, war es schmerzhaft für Sie, dieses Buch zu schreiben?
Ja, es war schmerzhaft. Nachdem ich meine Heimvergangenheit lange verdrängt hatte, kam beim Schreiben vieles hoch. Ich nahm immer wieder neu Anlauf und brauchte Jahre, um das Buch fertigzuschreiben. Einmal schmiss ich 200 Seiten Manuskript in den Papierkorb.
Sie beschreiben Ihr ergreifendes Kinderschicksal. Was sagt dieses über die Schweizer Gesellschaft der 1940er- und 1950er-Jahre aus?
Meine Geschichte und die Geschichte aller anderen Menschen, die von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen waren, zeigt: Es gab einen grossen Konformitätsdruck. Wer nicht in die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen passte und erst noch zur Unterschicht gehörte, bekam diesen Druck in aller Härte zu spüren. Anstatt Menschen in sozialen Notlagen beizustehen, grenzte man sie aus und versorgte sie. Aus den Augen, aus dem Sinn. Nicht einmal Neugeborene wurden verschont, was sehr kaltherzig wirkt.
Die Verantwortlichen – von den Behörden bis zum Pfarrer – waren überzeugt, für diese Familien etwas Gutes zu tun.
Ja, man hatte das Gefühl, Kinder wie ich müssten «gerettet» weden. Man glaubte, es sei besser, wenn ich ins Heim komme, anstatt bei meiner unverheirateten Mutter aufzuwachsen. Ein furchtbarer, ein widersinniger Gedanke. Mutter und Kind wurden auseinandergerissen – ohne Einverständnis der Mutter. Das hätte man nicht machen dürfen.
Was sind heute die Gründe, wenn Kinder fremdplatziert werden?
Moralische Beurteilungen spielen heute keine Rolle mehr. Dass ein Kind unehelich geboren wurde oder die Eltern geschieden sind, ist kein Kriterium mehr für eine Fremdplatzierung. Massgeblich ist nur noch die Frage, ob das Kindswohl gefährdet ist oder nicht.
Woran merkt man das?
Wenn sichtbar wird, dass ein Kind nicht richtig betreut wird. Wenn es seelische und körperliche Mangelerscheinungen zeigt. Wenn es geschlagen oder misshandelt, in seiner Unversehrtheit verletzt wird. Dann muss man sich fragen, wie das Kindswohl wieder ins Zentrum gerückt werden kann. Manchmal ist eine Fremdplatzierung die hilfreichste Lösung.
Seit 2013 entscheiden professionelle Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB), ob ein Kind fremdplatziert wird. Ein Fortschritt?
Ein riesengrosser Fortschritt, ja. Man kann das gar nicht genug betonen. Früher befanden die Behörden der Gemeinde, in der das Kind lebte, über Kindswegnahmen. Oft in Absprache mit dem Pfarrer, wie das auch bei mir der Fall war. Heute gibt es mit der KESB eine professionelle Behörde, die die Situation aus der Distanz betrachtet. Sie kann objektiver und sachlicher darüber entscheiden, ob das Kindswohl gefährdet ist oder nicht.
Auch wenn sie die Situation in der Gemeinde weniger gut kennt?
Das ist gerade der Vorteil der KESB. Dass sie nicht in den «Teig» verstrickt ist, in die Beziehungen vor Ort. Bei mir schnürten damals die Grossmutter und der reformierte Pfarrer ein Päckli, die Behörden verhinderten es nicht. Mir fehlte die schützende Hand des Staates. Hätte es die KESB schon gegeben, wäre mir das nicht passiert. Ich wäre sehr wahrscheinlich nicht ins Heim gekommen. Die KESB entscheidet nicht vom Schreibtisch aus. Sie schickt ihre Mitarbeitenden vor Ort. Diese klären die Situation ab und sprechen mit den Leuten.
Die Arbeit der KESB ist umstritten. Kritiker vergleichen sie mit den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und behaupten, es sei schlimmer als damals bei den Verdingkindern.
Das ist dummes Zeug. Populistische Hetze. Zu sagen, es sei heute gleich wie früher, stimmt einfach nicht. Die KESB hat den gesetzlichen Auftrag, das Kindswohl ins Zentrum zu stellen. Sie ist aus Fachleuten des Rechts, der Psychologie und der Sozialarbeit zusammengesetzt und mit einer Vielzahl anderer Stellen vernetzt. Das beugt einer Willkür so gut wie möglich vor. Die KESB wird nicht von sich aus aktiv, sondern erst nach einer Gefährdungsmeldung. Diese kann von der Gemeinde kommen, einer Nachbarin, der Schule. Und ganz wichtig: Die Betroffenen haben heute Rechte, auch die Kinder. Das war zu meiner Zeit nicht der Fall.
Woher kommt dann die zum Teil heftige Kritik an der KESB?
Frühere Vormundschaftsbehörden waren weniger sichtbar, weil ihr Personen aus der Gemeinde angehörten. Ein Gemeinderat, der Pöstler, die Hausfrau. Die KESB ist als externe Behörde sichtbarer und damit angreifbarer. Das ist das eine. Das andere: Die KESB wird von rechtsbürgerlichen Kreisen angegriffen, die generell gegen den Staat und die Behörden sind. Sie ist eine dankbare Zielscheibe, weil sie sich wegen ihrer Schweigepflicht schlecht wehren kann. Der KESB ist es rechtlich untersagt, über ihre Dossiers Auskunft zu geben. So können sich in den Köpfen der Gegner die Verschwörungstheorien hochschaukeln.
Die KESB kann teure Heimplatzierungen verfügen, die die Gemeinden bezahlen müssen. Ist das nicht stossend?
Dass eine unabhängige Instanz primär anhand des Kindswohls entscheidet, finde ich richtig. Sonst kommt es zu Interessenskollisionen in den Gemeinden. Ich habe als Heimleiter erlebt, wie Heimplatzierungen an den Finanzen scheiterten, obwohl sie angezeigt gewesen wären. Man wartete zu – bis der Jugendliche kriminell wurde. Den strafrechtlich begründeten Heimaufenthalt bezahlte dann der Kanton. Es gäbe Modelle, mit denen sich verhindern liesse, dass eine Gemeinde wegen Heimplatzierungen die Steuern erhöhen muss. Gemeinden könnten einen Pool bilden, je nach Einwohnerzahl Beiträge einzahlen und Heimplatzierungen oder andere teure Massnahmen daraus finanzieren. Das wäre Solidarität zwischen armen und reichen Gemeinden. Dazu braucht es jedoch einen politischen Willen.
Steht nicht auch die KESB unter Spardruck?
Doch, von allen Seiten. Weil Heimplatzierungen teure Lösungen sind, wartet man vielleicht zu oder sucht vorerst günstigere ambulante oder teilstationäre Lösungen. Kommt das Kind oder der Jugendliche dann trotzdem ins Heim, erwartet man von diesem Wunder.
Was spricht gegen ambulante Lösungen? Die Heimplatzierung sollte doch die Ultima Ratio sein.
Es ist eine Frage der Indikation: Was dient dem Kindswohl am besten? Beim einen Kind reicht es aus, wenn seine Familie durch Fachleute begleitet wird. Beim anderen nicht. Das sollte aber nicht vom Geld abhängen. Man darf die Massnahmen auch nicht gegeneinanderstellen. Eine Heimplatzierung ist nicht schlechter als eine ambulante Massnahme. Entscheidend ist die Frage: Was braucht ein junger Mensch in diesem Moment?
Eine Familie sei immer noch das beste Umfeld für ein Kind, geben die KESB-Kritiker zu bedenken. Stimmen Sie zu?
Nein. Sofern das Kindswohl gewährleistet wird, kann ein Kind überall aufwachsen. In einer liebevollen Familie, in einem gut geführten Heim. Die Familie sollte nicht zu stark idealisiert werden. Die meiste Gewalt gegen Kinder passiert in Familien, und es kommt vor, dass Kinder dort schlecht versorgt werden, zu wenig zu essen bekommen – in unserem wohlhabenden Land. Es gibt Mütter, die ihre Kinder töten, und Kinder, die ihre Eltern umbringen. Wir haben in unserem Heim zwei jugendliche Vatermörder betreut. Solche Realitäten sind schwer auszuhalten, aber es gibt sie, auch wenn sie nicht ins schöne Familienbild passen.
Wie kommt es, dass Eltern dermassen versagen?
Das sind meistens lange Geschichten. Häufig sind die Eltern selber schon in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Wurden selber schon vernachlässigt, haben selber Gewalt erlitten. Die Veränderung braucht Zeit.
Anhand Ihrer Biografie lässt sich nachvollziehen, wie sich die Heimerziehung in der Schweiz in eine positive, aufbauende Richtung verändert hat. Gibt es trotzdem noch Systemrisiken?
Kinder- und Jugendheime gehören heute zu den bestkontrollierten Institutionen im Land. Sie werden von allen Seiten durchleutet: Trägerschaft, Kantone, Bund, Medien. Das grösste Systemrisiko ist, dass man ihnen die Mittel kürzt und das Erfolgsmodell gefährdet.
In den Konzepten der Heime finden sich abstrakte Begriffe wie «Kompetenzorientierung» oder «Ressourcenorientierung». Als Laie kann man sich darunter oft nicht viel vorstellen.
Im wesentlichen bedeutet das: Heime fokussieren nicht auf die Defizite von Kindern und Jugendlichen, sondern auf ihre Stärken und Chancen. Bei uns Heimkindern damals war das Gegenteil der Fall. Man gab uns immer wieder zu verstehen, wir seien durch unsere Herkunft weniger wert als andere. Gut und wichtig, dass es heute anders ist. Die Heime und die einweisenden Stellen müssen jedoch aufpassen, nicht in einen Konzept-Aktionismus zu verfallen. Alle paar Jahre wird ein neues Konzept «gehypet» und gilt als grosser Wurf.
Bis das nächste kommt?
Genau. Auch ein Diagnose-Aktionismus ist in Gang. Für jede kleinste Verhaltensabweichung wird eine Diagnose erstellt und immer häufiger auch medikamentös behandelt. Kaum zappelt einer ein bisschen – zack, Ritalin. Da macht die Pädagogik einen Kniefall vor der Psychiatrie. Die Kinder seien halt «schwieriger» geworden, heisst es oft.
Ist dem so?
Das bezweifle ich. Vielleicht sind wir in unserer Gesellschaft einfach nicht mehr bereit, Erziehungsverantwortung zu tragen und ein bestimmtes Verhalten von Kindern und Jugendlichen auszuhalten. Niemand mehr hat Zeit. Erziehung ist etwas furchtbar Langweiliges. Sie ist langfristig angelegt. Heute muss aber immer alles schnell gehen.
Ist der Konzept- und Diagnoseaktivismus die Kehrseite der Professionalisierung in den Heimen?
Ein Stück weit schon. Die Professionalisierung hat der Heimerziehung wertvolle Instrumente an die Hand gegeben, die ihr helfen, ihre Erziehungsarbeit im Alltag gut zu machen. Sie kann aber auch zu einer gewissen Distanz zwischen Betreuenden und Betreuten führen. Es wäre schade, wenn die sozialpädagogische Arbeit immer mehr ins Büro verdrängt würde.
Darf ein Erzieher im Heim heute ein kleines Kind noch auf den Arm nehmen?
Er wird das wohl besser unterlassen. Massnahmen zur Prävention von Übergriffen sind zweifellos sehr wichtig. Es gilt, die Kinder zu schützen. Auf der anderen Seite ist heute oft eine grosse Angst vorhanden, Fehler zu machen. Auch wenn es vielleicht gar keine wären.
Man hört häufig den Satz, so etwas wie mit den Verding- und Heimkindern dürfe nie wieder passieren. Welche Lehren gilt es aus Ihrer Sicht zu ziehen, damit der Satz keine Floskel bleibt?
Die Wissenschaft arbeitet dieses Kapitel Schweizer Sozialgeschichte nun systematisch auf. Die Forschungsergebnisse werden die Mechanismen und Hintergründe aufzeigen. Was man jetzt schon sagen kann: Unsere Geschichten zeigen, wie wichtig ein gut ausgebauter Sozialstaat ist. Und welche Folgen es hat, wenn Armut geächtet wird und Menschen ausgegrenzt werden. Auch heute drohen Menschen ausgegrenzt zu werden, zum Beispiel Flüchtlinge und Sozialhilfebezüger, die als «Schmarotzer» verunglimpft werden. Hoffentlich gibt es nicht in 75 Jahren das nächste düstere Kapitel aufzuarbeiten.
Sie haben Ihr langes Heimleben aufgeschrieben. Was möchten Sie mit Ihrem Buch bewirken?
Lange Jahre kaute ich ganz allein an meiner Vergangenheit, bei der Pensionierung machte ich sie öffentlich. Mit dem Buch gebe ich sie nun ein Stück weit von mir weg und befreie mich davon. Die Menschen können das Buch lesen, wenn es sie interessiert, und selber entscheiden, was sie damit anfangen wollen. Ich hoffe, das Kapitel der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wird in die Lehrpläne aufgenommen. Nur wenn die Geschichten von uns ehemaligen Heim- und Verdingkindern und anderen Betroffenen in den Schulbüchern stehen, gehen sie nicht vergessen. Dann werde auch ich sagen können: Jetzt ist es gut.