Wer trägt die Verantwortung?
31.05.2014 16:56
Eine Frage dreht sich mir im Zusammenhang mit den „fürsorgerischen Zwangsmassnahmen" im Kopf herum und das schon seit längerer Zeit. Nämlich die nach der wirklichen Verantwortung:
Die Schweiz hat sich im letzten Jahrhundert - vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg - und bis tief in die siebziger Jahre hinein Dinge erlaubt, die heute zurecht als empörend, wenn nicht gar als "faschistoides Machwerk" angeprangert werden müssen. Doch wer dies anprangert ist nicht die heutige Gesellschaft an sich und ist auch nicht die breite Bevölkerung. Es sind vielmehr die Betroffenen selber, viele Historikerinnen und Historiker, engagierte Menschen aus der Politik, der Kirchen, der Verbände, Medienschaffende, Sozialschaffende usw. Eher Einzelmasken also, die sich couragiert mit Worten und Taten in die Öffentlichkeit drängen.
Wider das Vergessen!
Denn diese Schweiz von damals hat sich erlaubt, Kinder und Jugendliche mit Gewalt von ihren Müttern und Vätern zu trennen, nur weil sie nicht der gängigen Helvetischen Lebensart entsprachen. Diese Schweiz hat sich erlaubt, Kinder und Jugendliche gegen den Willen ihrer Eltern in Heime zu versenken, nur weil diese Eltern nicht der damals gängigen Moral und Sitte entsprachen. Diese Schweiz hat sich erlaubt, zuzuschauen, wie Kinder in Verstecken hausen mussten, ohne schulische Bildung, einsam und verlassen, nur weil die Gesetze damals es den betroffenen Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern nicht erlaubten, als Familien zu leben. Diese Schweiz hat sich erlaubt, Jugendliche ohne Not und ohne richterliche Verfügung in Strafanstalten für Erwachsene zu platzieren, nur weil die hierfür notwendigen Einrichtungen fehlten. Und diese Schweiz hat sich auch erlaubt, junge Menschen eugenisch zu behandeln, zu verstümmeln, nur weil sie vielleicht hoffte, eine Nachfolgegeneration von Menschen herauszuzüchten, ohne die lästigen und teueren Behinderungen ertragen zu müssen.
Ja, diese unsere Schweiz hat sich Dinge erlaubt, über die man sich heute verwundert die Augen reibt. Denn es waren nicht einfach Einzeltaten verrückter oder besessener Beamter. Es waren auch nicht Einzeltaten frömmelnder Anhänger der moralischen Aufrüstung, oder katholische Eiferer. Und schon gar nicht waren es bloss die Heimleitungen und die Vormünder. Denn diese vollstreckten, was die damalige Politik ihnen verordnete. Ich gehe vielmehr davon aus, dass - der Breite und grossen Zahl der Betroffenen wegen - den damaligen Praktiken ein "gesellschaftliches Konzept“ zu Grunde lag. Ein gesellschaftliches Konzept, welches nicht nur tolerierte, was den Kindern und Jugendlichen in schrecklicher Art angetan wurde, sondern auch als eine Notwenigkeit interpretierte, die Gesellschaft „rein" zu halten.
Die Schweiz von damals hat die gewaltsame, schmerzhafte und völkerrechtswiedrige Separierung tausender und abertausender von Kindern und Jugendlichen von ihren Eltern nicht nur toleriert, sondern aktiv und willentlich angeordnet und unterstützt. Genauso steht deshalb die Schweiz von heute in der Pflicht, dieses dunkle Kapitel umfassend aufzuarbeiten. Der Runde Tisch und die Wiedergutmachungsinitiative mögen gut gemeinte erste Schritte in diese Richtung sein. Was aber fehlt, ist eine breite Debatte darüber, weshalb und in welchem politisch-gesellschaftlichen Kontext damals das alles geschehen konnte. Eine Wahrheits- und Versöhnungskommission nach Südafrikanischem Muster könnte als Vorbild dienen. Ob die Schweiz den Mut dazu hat?